Erstellt am: 30. 6. 2010 - 12:05 Uhr
Rocker stürmen die Oper
Animal Collective tun es. David Byrne tut es. The Knife tun es. Und Pink Floyd tun es schon wieder: Alle vergreifen sich derzeit mit unterschiedlichen Zugängen am Format "Rock-Oper".
David Byrnes' und Fatboy Slim's "Here lies love"-Songzyklus über die philippinische Ex-Präsidentengattin Imelda Marcos liegt als CD plus Visuals vor und wartet noch auf seine Bühnenversion. The Knifes "Tomorrow, In a Year" kam als Auftragswerk für die Charles-Darwin-Oper der Performancegruppe Hotel Pro Forma bereits zur Aufführung. Animal Collective führen ihr "Oddsac" betiteltes "visuelles Projekt" seit Anfang des Jahres bei Film- und Popfestivals und in Museen vor; ab Juli gibt es die DVD. Und Pink Floyd (bzw. der verbliebene Frontman Roger Waters) haben ihr gigantomanisches Rockopern-Spektakel "The Wall" wieder ausgegraben und beginnen im Herbst eine Welt-Tournee.
Ein Quickie mit Tommy
Ihre ersten Gehversuche machte die Rockoper vor 45 Jahren mit einem Mini-Songzyklus über einen Seitensprung im Fernfahrermilieu auf der LP "A quick one" von The Who. In den späten Sechzigern und ihren blühenden psychedelischen Fantasien bis in die Progressivrock-Hochphase der Siebziger wurden dann die Popnummern immer länger, und füllten schließlich ganze Alben, die einem Thema gewidmet waren – von Konzeptalben wie Moody Blues "In search of the lost chord" und Pretty Things "SF Sorrow" bis zu effektiven Rockopern mit visueller Umsetzung wie The Whos "Tommy" und schließlich "Quadrophenia".
who
Das hatte einen durchaus wirtschaftlichen Hintergrund: Mit wachsendem Teenager-Publikum, das einen Gutteil seines historisch außergewöhnlich hohen Einkommens für Musik ausgab, überflügelte die LP in den Sechzigern die Single. Während LPs früher nur im Marktsegment Klassik und Jazz dominierten, im Pop aber vorwiegend Sammlungen von Hit-Singles waren, wurde nun die Single zu einem Marketinginstrument, eine "Auskopplung", die für die LP Werbung machen sollte. Im Gegensatz zur Kurzlebigkeit von Singles entwickelten LPs nun eine zunehmend längere Verweildauer in den Pop-Charts. Diese kommerzielle Beständigkeit machte sie für die Plattenfirmen attraktiv. Ende der 60er stellten LPs über 80% der Verkaufseinkünfte der US-Musikindustrie.
jesus
Kunst oder Pop?
Mit der Dominanz des LP-Formats veränderten sich die Rahmenbedingungen für die darauf präsentierte Musik. Die Entwicklung neuer Ausdrucksformen in der Popmusik hin zu Konzeptalbum und Rockoper war die Antwort, die sich mit musikimmanenten Motiven gut vertrug, wie Boris Jordan erhellt:
"Pop ist ja per Definition ein kurzes, situationistisches Format, das rasch, unmittelbar, andeutungshaft und vergänglich sein soll und das durch die dazu geeignete Single in der Anfangsdefinition bestimmt wurde. Die ersten Alben waren ja Singles-Compilations (daher der Name 'Album').
Die Hippies, und Dylan voran, die sich anders als noch Elvis oder die Beach Boys / Beatles (beide am Anfang, später haben sie ja Programmmusik und Konzept fast in den Mittelpunkt des Schaffens gestellt) als Kunstschaffende in einer erzählerisch-literarischen Tradition verstanden haben, wollten dieses als Korsett empfundene Miniatur-Kunstwerk namens Single durch die große Erzählung namens Konzept-Album ersetzen.
Es sind auch viele Konzept-Alben an literarische Erzählungen, historische Episoden ('Six wives of Henry VIII') angelehnt oder um erfundene fiktive Personen gebaut (Aqualung von Jethro Tull, Tommy von The Who und Arthur von den Kinks um Figuren, Ruben and the Jets von Zappa und Sgt. Pepper um fiktive Bands), was eher literarische als künstlerische oder musikalische Rahmen sind ... für musikalische Ausuferungen würde ich auch eine gewisse 'bewusstseinserweiternde' Erfahrung verantwortlich machen - wer LSD nimmt, mag nicht in drei Minuten davon erzählen, dass Papi so gemein war, ihm das Auto nicht zu borgen, oder dass sein 'Baby' ihn verlassen hat, sondern er will seine grenzenlose Gotterfahrung auch in 64-taktige Soli kleiden.
tommy
Technisch wurde sicher die Entdeckung des Studios und die Möglichkeit, das 4-Minuten-Format zu überschreiten, auch eine Voraussetzung für die Album-Innovation.
Punk hat (ganz situationistische Bewegung, die er laut Greil Marcus sein wollte) dann die Single, das Livekonzert, die Aktion und Medieninszenierung anstatt der großen Erzählung wieder in den Vordergrund gestellt.
Neben ökonomischen Faktoren glaube ich also, dass auf künstlerischer Seite die Spannung zwischen Musikschaffenden, die sich als LiteratInnen (oft auch als eine Art 'klassischeR' KomponistIn - daher die ganzen Fugen und Suiten von Emerson, Wakeman und den seinen) versus die MusikerInnen, die sich als AktivistInnen/EntertainerInnen verstehen, hier ziemlich viel Einfluss auf diese Auf-und-abPopularität des Konzeptalbums ausgeübt hat."
Dinosaur Junior
Was interessiert aktuell Musikschaffende plötzlich wieder am Saurier-Format Rockoper? Möglicherweise wallt bloß der Wille zur Kunst in den Reihen der MusikerInnenschaft wieder einmal auf. Eine andere rezente Episode der Rockoper-Veteranen Pink Floyd verweist jedoch auch auf ökonomische Faktoren: Die Band hat im März eine Klage gegen ihre Plattenfirma EMI gewonnen. Demnach darf EMI nicht mehr ohne Einverständnis der Musiker einzelne Songs im Internet verkaufen. Pink Floyd wollen damit verhindern, dass ihre als Gesamtwerke konzipierten Alben "zerrissen" werden. Nicht zufällig wuchten sie jetzt "The Wall" von 1980 wieder auf die Bühnen dieser Welt.
byrne
Das vermehrte Aufkommen von Rockoper-Formaten ist also auch eine künstlerische Antwort auf veränderte ökonomische Rahmenbedingungen: Es ist ein Versuch, sich dem Tod des Albums zu widersetzen, der durch die Zersplitterung auf einzelne Songs im Zuge der Verlagerung von Popmusik ins Web droht, und sowohl eine künstlerische als auch eine ökonomische Einschränkung mit sich bringt.
Das Einbrechen des Tonträger-Verkaufs rückt im Musikgeschäft in der Regel die Live-Performance als Einnahmequelle (wieder) in den Vordergrund: MusikerInnen müssen heute auf Dauer-Tournee gehen und dort Abend um Abend authentischen Schweiß und Gefühle vorführen. Ganz schön anstrengend. Der Wechsel ins Opernformat als Alternative birgt für die AutorInnen das Versprechen, mit einem imposanten Gesamtkunstwerk entweder zum traditionellen Tonträger-Verkauf (attraktiviert mit zusätzlichen Interpretations-Beigaben etc.) zu animieren, oder sich den Zwängen der Rock-Authentizitäts-Performance zu entziehen, indem sie den Schaueffekt fürs Publikum an SchauspielerInnen oder Filmdarbietungen delegieren.
knife
Am fernen Horizont winkt vielleicht für Einzelne auch der Wechsel ins Genre der bürgerlichen Hochkultur – das Feindbild von einst hat zwar viel von seinem gesellschaftlichen Status eingebüßt, aber im Gegensatz zur mittlerweile kulturell siegreichen Popkultur ist es nach wie vor üppig mit Subventionen ausgestattet. Nicht umsonst finden wir heute viele Indie-MusikerInnen, die ihren Bohème-Bonus in Literatur und Theater exportieren, und dort für ihre Erzählungen vom wilden Leben endlich das Geld sehen, das ihnen in ihrem Stammberuf (längst) nicht (mehr) versprochen wird.
War die erste Rockopern-Welle ein Ausdruck von Entfaltungsmöglichkeiten angesichts neuer ökonomischer Horizonte, ist die jüngste Welle also eher eine Fluchtbewegung angesichts verengter ökonomischer Horizonte. Künstlerisch interessant kann sie freilich dennoch sein.