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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

28. 6. 2010 - 21:21

WM-Journal '10-62.

Marcelo Bielsa ist ein Genie. Auch wenn Chile das Achtelfinalspiel gegen Brasilien verliert. Und er sollte dringend Österreichs Nationalteam übernehmen.

Seit 1. Juni erscheint das WM-Journal zum Turnier in Südafrika - mit einer Ausgabe pro Spiel und zusätzlichen Analysen.
Hier auch in der Übersicht.

Das WM-Journal gibt es auch als Podcast, einmal täglich, gegen Mittag.

Die Fakten zum Spiel Brasilien - Chile.

Offizielles: die FIFA-Seite und die WM-Spezial-Site der Sport-Kollegen.

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Es ist völlig egal wie dieses Achtelfinal-Spiel ausgeht: Marcelo Bielsa ist der Trainer dieses Turniers.
Bielsa managt den Underdog Chile, und was er (seit Jahren, schon die Qualifikation war toll) aus diesem kleinen Land mit kleiner Population, kleiner Spieleranzahl und kleinen Spielern rausholt ist eine Sensation.

Denn Chiles Angriffs-Fußball, den auch schon der große Johan Cruyff als seinen aktuellen Lieblingsfußball adoptiert hat (weil er ihn an den holländischen Totaal Voetbal bei seines Oranjes so schmerzlich vermißt), entsteht aus dem Gegenteil der dümmlichem Gehts-Auße!-Parolen mit denen die hiesige Coaching-Schule den hiesigen Fußball versaut.
Bielsa hat eine Philosophie.
Und Bielsa hat einen Plan.
Immer.

Als unterlegene Mannschaft (egal ob das wegen der Körper, der individuellen Klasse, des Geldes oder der Eingespieltheit der Fall ist) braucht man das; einen Plan.
Man muss denken können und das Gedachte dann auch umsetzen. Dazu bedarf es Spieler-"Material" das so schlau ist sich dieser Strategie zu unterwerfen.

Bielsas Masterplan

In all dem, was Chile bislang gezeigt hat, egal ob bei den überlegen geführten Spielen gegen die Schweiz oder Honduras oder bei ihren offenen Schlagabtäuschen mit den beiden Favoriten des Turniers, den beiden offensiv gefährlichsten Teams der Welt, war dieser Plan, der Mut zu spüren.

Und so konnte auch heute eine an sich total unterlegene Elf nicht nur mitspielen, sondern dem großen Team einen tollen Zweikampf liefern.

Auch wenn die Selecao, ebenso wie die furia roja dann doch ein Stück zu stark ist für Bielsas Zwergentruppe.

Und, weils hier inhaltlich paßt und es auch am selben Tag erschienen ist, hier eine Art Rezension des WM-Journals im
"profil" Nr. 26/10 vom 28.06.2010, Seite: 83
Ressort: Gesellschaft. Mediamarkt, von Sven Gächter

Es ist schon wieder Zeit, sich zu erbarmen: diesmal jener kleinen Guerilla von Eingeschworenen, die Fußball wahrhaftig lieben und alle zwei Jahre an ihrer Leidenschaft verzweifeln, wenn der unwissende Mob im WM- oder EM-Taumel schwelgt und nichts anderes sehen will als Tore, schöne, schnelle Spiele, schnelle, schöne Stars, Tore, Emotionen und noch mehr Tore.

Der Public-Viewing-trunkene Mob verkennt dabei, dass Fußball nicht einfach flockig-schwereloser Spaß ist, sondern heiliger Ernst. Die Eingeweihten dagegen ziehen jedem noch so entfesselten Torreigen allemal ein lupenreines, auf höchstem taktischem Niveau ausgepegeltes 0:0 vor, weil es die Reinheit und strategiegetriebene Intelligenz des Spiels idealtypisch zum Ausdruck bringt.

Kaum jemand in Österreich verkörpert diesen Purismus unerbittlicher und brillanter als FM4-Blogger Martin Blumenau, der in seinem WM-Journal (fm4.orf.at/blumenau) jedes einzelne Match oft skrupulöser seziert als die für die auflaufenden Mannschaften zuständigen Trainerteams.

Neuseelands flexibles Switchen zwischen einem 3-4-3 und einem 5-4-1 (im Defensivfall) etwa treibt ihm nahezu Tränen der Rührung in die Augen. Auch Chiles hoch-offensives 3-3-1-3 findet seine ungeteilte Sympathie, im Gegensatz zu jenen ORF-Experten, die „einen aus der Luft gegriffenen, irgendwo abgemalten kompletten Holler“ erzählen und damit ihre „unbesiegbare Arroganz scheinbar Bloßfüßigen gegenüber“ verraten.

Wer die WM nur im Partymodus konsumiert, ist hier definitiv an der falschen Adresse. Aber wofür gibt es schließlich Public Viewings?

Bielsa hat sein Team zwangsläufig ändern müssen, nachdem ihm mit Gary Medel das rechte und mit Waldo Ponce das zentrale Glied seiner Dreier-Abwehr ausgefallen war.
Und seine Überlegungen wie man gegen den Top-Favoriten bestehen kann, mögen nicht von Erfolg gekrönt sein: richtig sind sie allemal. Und somit allen Nicht-Überlegern und Nichts-Denkern, die sich auf die Klasse der Einzelspieler verlassen, überlegen.

Bielsa hat mit Fuentes und Contreras zwei weniger gute Leute in der Verteidigung zur Verfügung - die stellt er in eine leicht nach links verschobene Zentrale. Denn über diese Seite kommt Luis Fabiano tendenziell.
Rechts hinten, über die Seite, die Robinho gehört, steht Gonzalo Jara und soll ihn blocken, den zentral vorstoßenden Kaka soll Mendoza mitdenken.
Vidal macht einen echten linken Flügelspieler, der manchmal in diese Abwehr einrückt, meist aber offensiv spielt. Isla, sonst rechtes Pendant dazu, orientiert sich ein wenig zentraler. Davor agiert die Vierer-Offensive (Sanchez rechts, Beausejour links, Mark Gonzales hinter Humberto Suazo zentral) nach ihrem Bedarf.

Soll heißen: Bielsa paßt sein System dem brasilianischen an - die spielen schief, also spielt er auch schief. Das ist grandios und fordert den Rekord-Weltmeister aufs Äußerste, kitzelt Dungas Team so stark, dass es sich tatsächlich erstmals wirklich zur Wehr setzen, erstmals richtig mitspielen muss-
Und dann auch entsprechend zeigt, was in ihnen steckt.

Jede kleine Nation braucht einen Bielsa

Es soll Teamchefs geben, die das was Nordkorea gegen Brasilien getan hat als vorbildlich ansehen.
Das reicht für kleine Chefs und wird als Bluff eines "überdachten" Systems durchgehen - für die wenig wissende und großteils desinteressierte österreichische Öffentlichkeit und die Sport-Medien, die jeden Schas durchwinken, mag das reichen.

Für richtigen Fußball reicht das nicht.
Deshalb bräuchte auch Österreich einen Bielsa. Und da ist selbst die Werbe-Figur mit der Kochmütze, die Eiskasten-Magneten rumschiebt, weitaus näher dran als der augendrehende blasierte Tiroler.

Deshalb: Bielsa muss dringend Österreichs Nationalteam übernehmen.

Aber jetzt zu Brasilien:

Denn deren Steigerung ist zwar durch die allererste echte Herausforderung in diesem Turnier provoziert worden - das passiert aber natürlich nicht zufällig.

Es hat sicher auch damit zu tun, dass sich Brasilien gegen Chile traditonell leicht tut - und solche Rivitäten und Rekorde stecken (das wissen wir spätestens seit gestern) tief drinnen in den Akteuren.
Es hat aber vor allem damit zu tun, dass heute mit Dani Alves und Ramires zwei an sich offensiv denkende Spieler im Mittelfeld dabei sind und einen Job machen, der bislang an (dem aktuell angeschlagegen) Elano allein hängengeblieben ist. Weil diese zwei die drei Offensiven vorne (Robinho, Kaka und Luis Fabiano) unterstützen, bewegt sich mehr.
Auch wenn es (mit Ausnahme einer Drangphase rund um die 9. Minute) fast eine halbe Stunde dauert, ehe sich die Selecao (vom Kopf her) befreit hat und die Tricks mit denen sie Bielsas Burschen festnageln langsam überzuckert.

Dann nützt Juan eine Kopfball-Chance, für die ihn Lucio freiblockt und dann nützt Fabiano einen Abwehr-Fehler, der Medel oder Ponce eher nicht passiert wäre - und der Favorit liegt schon ziemlich uneinholbar vorne.

Aber auch in der 2. Halbzeit wird sich Chile weder aufgeben noch hintenreinstellen noch abwarten noch taktieren - sie werden einen (von Bielsa gut überlegten) Plan mitbekommen und den so gut wie möglich umsetzen.
Und wir (also Johan Cruyff und alle anderen) werden unsere Freude daran haben.

2-4-4!

Bielsa stellt dann in dieser 2. Hälfte von seinem eh schon hochriskanten halbverschliffenen 3-3-4 auf echten Irrsinn um: auf ein 2-4-4.
Sowas hab ich überhaupt noch nie gesehen. Unglaublich.

Jara geht links neben Fuentes in die Zweier-Abwehr, Vidal übernimmt die rechte Flanke, ein Neuer, Tello (von Besiktas) die linke und Valdivia kommt statt Mark Gonzales als hängende Spitze.

Und wieder übernimmt Chile das Match, wie schon in der 1. Hälfte. Und das obwohl sie gegen Brasilien (!) 0:2 (!) hinten liegen und von keinem Wetter der Welt mehr gesetzt werden und womöglich in die Konter rennen werden.

Anmerkung: mir geht es hier nicht drum die Probleme im chilenischen Spiel schönzureden: sie brauchen zuviele Szenen um Torgefahr zu erzielen und zu viele Chancen für Tore. Sie steigen zu hart ein, sie sind körperlich limitiert und nicht ausgeglichen genug.
Aber die Idee dahinter - die ist grandios. Und darum geht es.

Wer sich sowas traut, ist wahrlich "loco".
Aber eben auch ein Genie.

Das ändert auch ein 0:3 nicht (von oben erwähnten Ramires und einem seiner Offensiv-Vorstöße vorbereitet).

Besser in Schönheit und Würde untergehen als sich wie ein gekrümmter Wurm in die Nichtigkeit, in die eigene Bedeutungslosigkeit ergeben.
Niemand ist bedeutungslos, wenn er einen Plan hat und scih traut den auch umzusetzen.
Das tun aber nur die wenigsten, die Mutigen, die Anti-Schisser, die Beseelten.

Von diesem Geist erzählt auch die Szene, in der sich Sanchez im Strafraum eben nicht fallen läßt, obwohl er das könnte.
Das mag für österreichische Verhältnisse auch "loco" sein, langfristig ist aber nur mit solchem Fußball was zu gewinnen.

Zum Weltmeister 2010 reicht es nicht, auch nicht zum Traumfinale. Aber zwei der WM-Ttopspiele gegen zwei der ganz Großen waren schon drin, danke Bielsa, fürs Vorzeigen, dass auch das Unmögliche geht.

Brasilien wird sich in der nächsten Runde mit den Niederlanden auseinanderzusetzen haben. Und in diesem Knaller zumindest ähnliches zeigen müssen wie heute.