Erstellt am: 28. 6. 2010 - 14:15 Uhr
WM-Journal '10-60.
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Es war schon nach dem ersten gestrigen Achtelfinale und Lampards Hinter-der-Linie-Lattenpendler klar. Es wurde dann im zweiten Match durch das Abseits-Tor von Tevez scheinbestätigt: die alte Leier-Diskussion um den Einsatz technischer Hilfsmittel poppt wieder auf.
Sie auf locker mit dem katholischen Zölibat zu vergleichen macht sie nicht griffiger oder gar sinniger.
Dieser Schein-Ruf nach "Gerechtigkeit" offenbart nur ein weiteres Mal die aktiven Denkschwächen eines Systems, das sich mit lauthalsen Bekanntgaben der einfachsten Lösungen zufriedengibt.
Die Forderung nach der technologischen Überwachung strittiger Szenen ist nichts als ein Outsourcen der Entscheidungsgewalt an eine Security-Macht. Und, ja, das folgt einem Muster, das auch in Österreich bekannt ist: dem populistischen Modell sich dem, der am schnellsten "Sicherheit!" schreit unterzuordnen.
Wer den anderen ändern will, liebt nicht
Das ist fatal.
Es trennt aber auch wunderbar die Spreu vom Weizen.
Im Falle des Fußball trennt es die, die das Spiel wirklich lieben, von denen, die sich damit ungesund und zu verengt überidentifizieren und durch alles, was nicht nach ihrem Spielplan läuft leicht zu verbittern sind.
Die Erfahrung zeigt folgendes:
- diejenigen, die im normalen/richtigen Leben eher brave Kuscher sind, oder diejenigen, die dort nur leise und hintrum Einflußnahme versuchen, sind tendenziell diejenigen, die es dann im Sport, vor allem im Fußball, überernst nehmen. Das ist küchenpsychologisch verständlich: wenn man sich schon im Leben nicht traut Gehör zu verschaffen und zu seiner Meinung zu stehen, dann will man wenigstens im von klaren Regeln abgezirkelten Spielplatz Fußball ganz exakt drauf pochen, dass alles korrekt läuft. Auch und vor allem unter Anzweiflung der innerhalb dieses Systems aufgestellten Autoritäten.
Obacht: ich spreche hier nicht von bewußten Manipulationen wie Wettbetrug oder Verschiebereien aus politischen (WM 34 Italien etc) oder anderen Gründen - sondern immer und ausschließlich von klassischen menschlichen Fehlleistungen, die wegen der Regel der sogenannten Tatsachen-Entscheidung nicht widerrufbar sind.
- und dann diejenigen, die sich in echt auch was trauen, die Stimme erheben, anecken, ihre Meinung sagen, nehmen es viel lockerer, wenn es im Sport, konkret im Fußball Entscheidungen gibt, die nicht in ihrem Sinn erfolgen. Bis hin zu echten Ungerechtigkeiten, sofern sie auf den human factor (also falsches Sehen, falsche Einschätzungen) zurückzuführen sind. Diese Menschen unterwerfen sich viel problemloser den Regeln des Spiels. Und diese Regeln besagen dass es eine Schicksals-Instanz auf dem Platz gibt, so einfach ist das.
Ein Anrufen weiterer Appellations-Stufen ist (aus gutem Grund, dazu später) nicht vorgesehen.
Fußball ist Charakterbildung
Jeder, der in das Spiel eintritt weiß das.
Und meine Erfahrung sagt mir, dass die einen damit besser umgehen können als die anderen.
Fußball ist also auch Charakterbildung, oder Charakter-Bestätigung oder Prägung.
Denn Ungerechtigkeiten innerhalb des Spiels sind kein Todesurteil, sondern vielmehr eine Chance. Ganze Fußball-Kulturen oder Helden-Karrieren sind darauf aufgebaut, dass man sich nach einer falschen Entscheidung wieder zurückgekämpft hat. Die klassische Ein-Mann-weniger-Aufbäumerei ist auf dieses simple Prinzip zurückzuführen.
Wer sich nach einer Fehlentscheidung aufgibt, verliert.
Und dabei ist es egal, ob das im Spiel oder im wirklichen Leben stattfindet - wo Fehlentscheidungen und Ungerechtigkeiten an der Tagesordnung sind, und wo niemand eine Zeitlupe anfordern kann.
Das im Fußball zu überwinden ist also eine Nagelprobe; auch fürs richtige Leben. Anstatt die durch den menschlichen Faktor herbeigerufenen Strittigkeiten anzuzmäkeln, sollten wir sie bejubeln. Weil sie den Unterschied machen, weil sie Großes aus uns rauskitzeln können.
Philosophisch denken
Man kann der FIFA einiges vorwerfen: Geldgeilheit, Machtphantasien, Korruption.
Aber eines versteht der world-governing-body wie kein zweites globales Vertretungs-Organ: eine Philosophie zu bewahren.
Und die Philosophie der FIFA sagt, dass der populistische Ruf nach technischen Hilfsmitteln den Sport, den sie zu bewahren hat (und den sie auch ausbeutet, keine Frage) beschädigen wird.
Denn: kein Mess/Maß-System der Welt funktioniert 100prozentig. Eventuelle Oberschiedsrichter irren sich auch, Video-Aufzeichnungen sind unklar, Fehler sind auch im besten überwachungsstaatlichen System unvermeidbar.
Das worüber Blatter jetzt in einem strategisch cleveren Angebot diskutieren will, ist deshalb auch nicht der Videobeweis oder eine eventuelle Challenge, sondern eine Torlinien-Technologie, also einen isolierten Einzel-Punkt.
Die Folge dieser Maßnahmen wäre aber die Zersplitterung des Spiels. Wie beim American Football wäre dann auch Fußball ein Spiel der dauernden Pausen, wodurch eines seiner Grundprinzipien, der ununterbochene Fluss über zweimal 45 Minuten verloren ginge. Was dann wieder zu Einflüstereien der Übertragungs-Anstalten und zu weiteren Regel-Änderungen führen würde - die die FIFA-Philosophie ablehnt.
Zurecht ablehnt.
Bis auf marginale Änderungen und Anpassungen funktioniert das Spiel seit hundert Jahren auf dieselbe Art. Und zwar weil die Regeln einfach und nachvollziehbar sind, und weil die Unterwerfung unter den human factor simpler zu handhaben ist als jährliche technische Neuerungen, die andere Sportarten so scheinflexibel aber unübersichtlich und global unansprechend machen.
Schein-Flexibilität
Das entsprechende FIFA-Board für Regeländerungen, das International Football Association Board (IFAB) wird großteils von älteren britischen Herren besetzt, hatte sich zuletzt ja bereit erklärt die Anzahl der Hilfsschiedsrichter zu erhöhen (wir erinnern uns an die Torrichter in der Euro-League) - die Experimente mit dem "Chip im Ball" sind aber gescheitert.
Und nicht einmal das umgekehrte Wembley-Tor wird die Philosophie dieser Herren brechen.
Einfach auch, weil England im gestrigen Spiel einfach nicht die bessere Mannschaft war. Es ist also ein Fehler passiert - aber die prinzipiellen Erwägungen haben gegriffen.
Ähnliches gilt für Mexico.
Dort hat man es nicht geschafft aus der lastenden sehr prinzipiellen Rolle des Underdogs, der gegen den bösen Hemisphären-Dominator eh keine Chance hat, rauszuschlüpfen. Wer sich in dieserr "Wir sind so arm!"-Rolle ergibt, verliert zurecht.
Das sollten wir in Österreich wissen - unsere Fußball-Unphilosophie der letzten Jahrzehnte sieht genauso selbstgefällig aus.
Fußball ist der bestmögliche Spiegel des Lebens. Und das, was gestern passiert ist bleibt völlig im Rahmen dessen.
Und die, die jetzt nach der Security rufen, denken, wie alle Fans des angewandten Populismus, deutlich zu kurz.