Erstellt am: 27. 6. 2010 - 21:58 Uhr
WM-Journal '10-59.
Seit 1. Juni erscheint das WM-Journal zum Turnier in Südafrika - mit (meist) einer Ausgabe pro Spiel und zusätzlichen Analysen.
Hier auch in der Übersicht.
Das WM-Journal gibt es auch als Podcast, einmal täglich, immer gegen Mittag.
Die Fakten zum Spiel Argentinien - Mexico 3:1.
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Man kann es sich jetzt einfach machen: Das Team vom Schiedsrichter Rosetti, einem der Helden der "Referees at work"-Doku, hat es verbockt. Ein klares Offside-Tor dreht den Charakter eines Spiels, bringt den Favoriten auf die Siegerstraße.
Weil sich Mexico dann ein zweites Tor quasi selber macht, ist alles entschieden. Und die Schuldigen sind - eh kloa! - ausgemacht.
So einfach ist das aber alles nur in einer Welt, die der Bierzelt-Populist dem nur an schnellen Gags interessierten Mitläufern anbietet. Diese Welt aber existiert nur in Vorstellungs-Maschinerien, diese Welt ist rein artifiziell, eine Verhöhung der Wirklichkeit, die nur das Dumme in uns akzeptiert.
In echt ist alles viel komplizierter.
Es beginnt damit, dass bei diesem Duell der beiden großen hispanoamerikanischen Fußball-Nationen eine Menge Untertöne mitschwingen.
Mexico betrachtet sich da traditonell als untervorteilt, Argentinien gilt sowieso als nur selbsternannte Führungsmacht im spanischsprechenden Mittel/Südamerika, fußballerisch seit der Ära Maradona als abgehoben und arrogant. Der Vorwurf sich den Titel 1978 erkauft zu haben, die griechische Vorstellung von 1990 und Maradonas Drogen-Delikte bei der WM 94 lassen Argentinien in der südamerikanischen Welt etwa so populär dastehen wie Bayern München in Europa.
Komplizierte Geschichten brauchen Erzählung
Zudem fühlt sich Mexico (wegen der Schwankungen von etwa Uruguay, Chile oder Kolumbien) als die einzige andere Konstante im lateinamerikanischen Fußball, und erfüllt dann die ebenso selbsternannte Rolle als Regulator.
Dazu kommen noch Aufeinandertreffen wie das von 2006 (wo ein Gewaltschuß von Maxi Rodriguez entschied) und fertig ist die unglückliche Ausgangsposition dieses Duells.
Auch die Aufstellungen dieses Achtelfinales zeigen schon, wer das Ganze wie sieht.
Das Maradona-Camp spielt weiter sein 4-3-3, wie zuletzt eher vorsichtig, mit Otamendi (also einem richtigen Rechtsverteidiger) und mit Messi direkt hinter Higuain und Tevez.
Mexico überrascht total, führt alle mit einer falschen Aufstellungs-Variante in die Irre und stellt - wie erstmals in der Schluß-Phase gegen Uruguay - ein 4-4-2, das stets in ein 4-2-4 wechseln kann, dagegen; bricht also mit allen Erwartungen, auch den eigenen.
Rafa Marquez bleibt im Mittelfeld, stattdessen geht Rechtsverteidiger Osorio in die Zentrale und Efrain Juarez, der Allekönner, spielt rechts hinten. Giovani und Guardado besetzen die offensiven Außenpositionen und Jungstar Hernandez und erstmals Bautista sind die Spitzen.
Und dann: der Nackenschlag...
Argentinien ist von diesem Konzept durchaus überrascht, läßt sich hinten reindrücken und kommt (auch weil das eigene 4-3-3 kein echtes Flügelspiel vorsieht) nur durch Messi-Dribblings vorwärts.
Mexico schießt aus allen Rohren und kombiniert sich auch prächtig durch die ein wenig unsortierten argentinische Defensivreihen, die sich auf ein anderen Spiel vorbereitet hatten.
Bis dann in der 25. Minute Messi einmal was gelingt - er schickt Tevez und aus dem Rebound der geblockten Chance entsteht ein Tor.
Im übrigen bekommt jeder, der in diesem Moment sofort (vor Zeugen) "offside" gerufen hat, von mir einen Euro. Das alles in der Zeitlupe und auf den zweiten Blick zu erkennen gilt nicht.
Weil (wie schon bei der Euro) Vidiwalls im Stadion herumhängen und Tore eingespielt werden, macht der Irrtum des Linienrichters bald die Runde. Und Rosettis Versagen ist es vielleicht das nicht gesehen zu haben.
Nur: ist ein Rückschlag, eine Fehlentscheidung Grund genug sich hinzustellen und aufzugeben?
Fußball ist ein Spiegel des Lebens - und dort kommt das ununterbrochen, jeden Tag, jede Stunde vor. Wer sich dann hinstellt und das Schicksal anbellt, der ist gefickt und hat verloren, unterschreibt die Unabwendbarkeit.
Im Fußball heißt das Schicksal Schiedsrichter, da gibt es zumindest einen human factor. Der neigt zu Konzessionen, das als Option für den Rest des Spiels.
... und die Nichtannahme dieses Geschenks.
El Tri, das Team Mexico läßt sich leider aus dem Gleichgewicht werfen, hadert statt zu handeln. Und ausgerechnet der verläßliche Osorio legt dann Higuian den Ball zum 2:0 quasi auf.
Das mit dem vorhergehendem Schicksalsschlag zu verknüpfen mag legitim und verständlich sein - sinnhaft ist es nicht.
Im Gegenteil: nur die, die nach solchen Schlägen zurückkommen, die machen sich berühmt, legendär und unsterblich. Wer sich aufgibt, der kann die nächsten Jahre als Hättiwari an der Bartheke verbringen.
Ich weiß: den meisten reicht das schon.
Bei einem WM-Achtelfinale ist das aber eben zuwenig.
Nicht dass Mexico sich hängen läßt.
Gar nicht.
Aber ein wirkliches Aufbäumen war nach der 25. Minute nicht zu spüren. Da will man zuerst in die Halbzeit kommen, dann tut man sich zu Beginn wieder schwer, fängt sich ein drittes Tor ein und kann nur eines nachlegen.
Das mag alles mit den anfangs beschriebenen komplexen Bezügen zu tun haben, mit einer Geschichte des Scheiterns und zu wenig Selbstbewußtsein. Aber: irgendwann beginnen alle Geschichten, irgendwann ende alle Serien. Und irgendwer muss halt anfangen.
Aguirres Team ist es heute nicht gewesen.
Das ist schade.
Ebenso wie die Tatsache, dass ihre Gesamtleistung besser war als ihr Abschneiden hier.
Keine Frage.
Denn: dass dieses Achtelfinale über lange Minuten ein wirklich großes Spiel war, das wird durch das aufgeregte Geplapper über einzelne Entscheidungen im Nachlauf weggeredet werden. Leider.
Bittere Poesie
Aber genau solche Nackenschläge fordern das Besondere geradezu heraus.
Deswegen wäre es wahrhaft heroischer gewesen das Geschenk Rosettis anzunehmen und aus dem Sumpf heraus das Unmögliche zu versuchen (so wie es immer wieder Teams, ich wage gar nicht an diverse deutsche Vorstellungen bei Weltmeisterschaften zu erinnern...).
So bleibt nur die Bitterkeit über das Pech und das Hadern mit dem Schicksal.
Schön und auch poetisch - aber dann doch zuwenig.