Erstellt am: 27. 6. 2010 - 18:23 Uhr
WM-Journal '10-58.
Seit 1. Juni erscheint das WM-Journal zum Turnier in Südafrika - mit (meist) einer Ausgabe pro Spiel und zusätzlichen Analysen.
Hier auch in der Übersicht.
Das WM-Journal gibt es auch als Podcast, einmal täglich, immer gegen Mittag.
Die Fakten zum Spiel Deutschland - England 4:1.
Offizielles: die FIFA-Seite und die WM-Spezial-Site der Sport-Kollegen.
Alle FM4-Stories zur WM, alle Rundherum-Geschichten aus Südafrika.
Das FM4 WM Quartier im Wiener WUK - mit In- und Outdoor-Screens für jedes Wetter.
Dieses Spiel ist das erste der WM 2010, an das man sich auch noch Jahre später deutlich erinnern wird.
Das hat nicht nur mit der Aufgeladenheit dieses klassischen Duells zu tun, da seit 1966 beide Nationen in regelmäßigen Abständen erregt und für einen katharischen Kriegsersatz sorgen, sondern natürlich auch mit der Qualität des Spiels und vor allem: seiner Dramaturgie.
Die Qualität lag auch darin, dass sich keine der beiden Mannschaften von der vor dieser Partie in absurder Offenheit zutagegetretenen Verblödung seiner Mainstream-Medien anstecken hat lassen.
Das Spiel war nämlich eines der allerfairsten des gesamten Turniers: es gab keine bösen oder garstigen Fouls, es gab heftigsten Spielfluss, und keinerlei bewusstes Zerstören.
Einen "offenen Schlagabtausch" nennt man das, eine offene Feldschlacht, um die kriegerische Metaphorik, die dieses Duell begleiete, einmal zu bedienen.
Letztlich wird es aber die Dramaturgie sein, die sich in den kollektiven Gedächntnissen festsetzen wird. Das auf den jetzt schon als "Gerechtigkeit für Wembley!", also das aberkannte Lattenpendler-Tor zu reduzieren, wird zu kurz greifen.
Das Bloemfontein-Tor
Denn klar wird dieses Tor, das keine Anerkennung fand, die Schlagzeilen beherrschen, klar werden die alten Tattergreise, die sich immer noch nicht über das damalige Lattenpendler-Wohl-Eher-Nicht-Tor, das Anerkennung fand und somit das WM-Finale von 66 vorentschied, hinweggekommen sind, jetzt in miefiges Stammtisch-Gegröle einstimmen.
Das war aber nicht die einzige Wendung dieses aufsehenerregenden Matches.
Da waren in der 1. Halbzeit gleich zwei falsche Offside-Pfiffe: der erste hätte Rooney schon in der 5. Minute alleine aufs Tor ziehen lassen. Und was ein eventueller Erfolg bei ihm hätte auslösen können - das ist Spekulationsstoff.
Aber auch der Lattenschuss des unglücklichen Lampard in der 52. Minute hätte das Spiel leicht noch kippen lassen können - und auch die darauf folgende 15-minütige Druckphase der Engländer war jederzeit für einen Treffer gut - ehe dann einer der vielen Abwehrfehler die Vorentscheidung brachte.
Legendäre Dramaturgie
Und auch das gehört zur Dramaturgie, die den Platz in der Erinnerung schaffen wird. Denn, dass ausgerechnet der schwache Matthew Upson den Anschluss erzielt, der Mann, der gemeinsam mit dem auch unglaublich neben sich stehendem John Terry die beiden ersten Gegentore mitverbockt hatte - auch das hat natürlich was.
Die mangelhaften Verteidigungsleistungen (neben der Innenverteidigung war es auch Mittelfeldspieler Barry, der sich beim dritten Treffer wie ein Kettenraucher überläufen ließ) haben wohl den entscheidenden Unterschied gemacht.
Denn natürlich war die deutsche Kreativ-Abteilung fitter, frischer und ausgebuffter (denn einige der Aktionen von Schweinsteiger, Özil, Müller, Podolski, Klose und Co waren wahrhaft brasilianisch) - das hätte aber angesichts der englischen Offensiv-Wucht, die sich in Kopf-, Weitschuß- oder Freistoß-Toren (oder eben Rooney Solo in der 5. Minute) niedergschlagen hätte, nicht gereicht.
Taktisch ist das alles so unaufregend, weil vorhersehbar, dass es kaum lohnt drauf einzugehen.
England wieder mit einem glasklaren 4-4-2, mit Milner rechts und Gerrard (der das nicht wirklich gut spielen kann) links offensiv.
Deutschland mit dem auf Özil zugeschnittenen 4-2-3-1, das man nur verläßt wenn die Kacke am Dampfen ist oder um zu experimentieren.
Die entscheidende Abwehrschwäche
Dass es nicht doch in eine Verlängerung gehen musste, was bei nur dezent anderen Details locker passiert wäre, ist eben der Tages-, nein, der Wochen- oder besser fast schon Monats-Form der Abwehr zu tun.
Und da ist Tormann James gar nicht inkludiert. Rio Ferdinand verletzt, John Terry durch seine eigenen Affären und durch seinen Deppen-Putsch geschwächt, Ledley King verletzt, Jamie Carragher ohne Vertrauen... und hinter diesen allesamt schön älteren Herren wächst einfach nichts nach.
Das deutsche Luxusproblem (nach einem schwachen Spiel über den seit Jahren superstabilen Per Mertesacker lästern) zeigt den Unterschied.
Es war also ein Klassiker, einer, den die bessere Mannschaft gewonnen hat; mit einigem Glück zwar und optimaler Ausnützung der guten Konstallation.
PS:
Zwei kleine Warnungen noch:
Englands Gesamtleistung war alles in allem nicht so schlecht, dass es für Häme reicht. Wer mit Begriffen wie "Debakel" hantiert, belegt seine Ahnungslosigkeit. Zweieinhalb brauchbare Leistungen, das ist (europäisch gesehen) weit überm Schnitt. Es ist halt dann doch die Schwäche des Personals und die damit verbundene mangelnde Flexibilität des Systems (denn so richtig riskieren oder umstellen kann man ja nur, wenn es Spieler gibt, die sowas beherrschen).
Und: Deutschland ist nicht Weltmeister. Sie hätten heute jederzeit rauskippen können - und das kann auch im Viertelfinale passieren. Man ist durchaus anfällig: einen Rückstand etwa, kann das Team nicht aufholen.