Erstellt am: 22. 6. 2010 - 15:26 Uhr
Getting it wrong, Teil 6
Auf das Risiko hin, mich zu wiederholen, könnte ich jetzt eigentlich mit der Klospülungsanalogie beginnen: Kaum sonstwo in der industrialisierten Welt findet man brustschwachere Zisternen als im Land der Erfinder des Wasserklosetts. Es ist die alte britische Marotte, Dinge zu erfinden, die der Rest der Welt übernimmt und verbessert, während man selbst dem veralteten Original treu bleibt. Alles hier ist ein Nostalgieobjekt, auch die Innovation selbst, popkulturell besonders gern in Form des Retrofuturismus. Und erst recht, was die andere große britische Erfindung Fußball angeht: Was soll ich sagen, da muss man sich bloß die englischen Dressen ansehen.
Und nein, ich meine damit nicht, dass die Engländer, wie ein gewisser Beckenbauer zu ihrem großen Gram letzte Woche bemerkte und an österreichischen Stammtischen von der Generation 60+ unermüdlich gefachsimpelt wird, nur Kick and Rush im Hirn hätten. Ganz ganz falsch.
Robert Rotifer
Schließlich darf ich als - mittlerweile nur mehr sehr seltener - Freizeitfußballer behaupten, dass selbst auf niedrigstem Level bzw. in Pubs hierzulande weit intensiver und leidenschaftlicher über Taktik und mögliche Spielzüge gesprochen wird, als ich das in Österreich in ähnlichen Situationen oder Wirtshäusern erlebt habe. Und dass dieses Abgesprochene dann sogar durchaus gern exekutiert wird.
Nur nicht ausrutschen - Das Diktat der Freudlosigkeit
Zu diesen fundamentalen Unterschieden nationaler Mentalitäten (an die ich nebenher gesagt natürlich eh nicht glaube, aber für Thesen sind sie immer praktisch) gesellen sich allerdings auch erschreckende Ähnlichkeiten, zum Beispiel in der mir aus Österreich wohlbekannten unheilbaren Tendenz zu potznegativer Dampfplauderei, deren über Kontinente und Meere ziehender Ausstoß grünlicher Heißluft im Stande ist, bis ins südlichste Afrika hinunter die Fußballerbeine zu lähmen.
Nichts an der englischen Erfahrung einer Fußballweltmeisterschaft, die ich heuer nun schon zum vierten Mal aus nächster Nähe miterlebe, ist wirklich freudvoll. Gerade einmal Genugtuung und Erleichterung sind als höchstes der Gefühle drin. Die Möglichkeit, dass das Erwartete einmal ausnahmsweise erfüllt werden könnte.
Robert Rotifer
Ansonsten heißt es Finger kreuzen (das englische Gegenstück zum Daumendrücken) und "don't slip up!" - nur nicht ausrutschen. Mit dieser Grundstimmung, der Angst vor dem Versagen vor den eigenen Ansprüchen, sitzt die Nation vorm Fernseher und geht das Team aufs Feld. Und torkelt die nächsten 90 Minuten einher wie ein Seiltänzer, der sich ständig vorsagt, wie tief es rund um ihn hinunter geht.
All das lässt sich vulgärsoziologisch bzw. historisch klar begründen.
Worum es im britischen bzw. jetzt einmal der Vereinfachung zuliebe im englischen Fußball geht, ist nämlich das genaue Gegenteil dessen, was seine traditionell vorwärtsgewandte Spielanlage ausdrückt, und zwar das Festhalten.
Insbesondere das Festhalten an Anachronismen.
In Lord Nelsons Namen: Alles festhalten
Man braucht sich bloß die Psychologie der Klischeesprache anzusehen: "England expects", der bei jeder WM aus der Mottenkiste geholte Wahlspruch, ist bekanntlich die Kurzform von Admiral Nelsons Signal an die Flotte in der Schlacht von Trafalgar: "England expects that every man will do his duty."
Nirgends wird derart unverschämt das alte Empire beschworen wie im Sport, nicht zuletzt in der ewigen Bemühung des Löwen, der als Symbolfigur die verblichene Kolonialmacht repräsentiert, so als wäre Südafrika längst noch in britischer Hand.
Robert Rotifer
Keine Angst, ich werde nun nicht mit der alten Schrulle vom Fußball als Ersatzkrieg antanzen, diese Analogie ist ohnehin offensichtlich, wenn die BBC aus Afghanistan die Reaktion der Soldaten auf englische Tore (korrigiere: Das eine bisher geschossene englische Tor) überträgt.
Der Mühlstein, der dem englischen Fußball um den metaphorischen Hals hängt, stammt zwar aus der Epoche des Empire, wurde aber nicht in den Kolonien, sondern auf der Insel selbst aus den Kreidefelsen gehauen. In Umformulierung der weisen Worte, die der französische Fußballjournalist und Cantona-Biograph Philippe Auclair in meiner letzten Heartbeat-Sendung vorigen Montag sprach:
Dieser in Englands Privatschulen des 19. Jahrhunderts reglementierte Sport wurde von an der Ertüchtigung des Proletariats interessierten Philanthropen an jene arbeitenden Klassen weitergegeben, die - ihrer provinziellen Herkunft entrissen - in die neuen industriellen Zentren gezogen waren. Seine Tradition etablierte sich in Folge als zentrales Definitionsmittel der kollektiven Identität dieser Working Class.
Da die britische Working Class sich seither mit dem fast völligen Verschwinden der herstellenden Industrien einerseits in der nicht arbeitenden, sondern sozialhilfeabhängigen Schicht, andererseits in einer entsolidarisierten, postindustriellen White-Collar-Arbeitswelt aufgelöst hat, übernimmt Fußball als ihre essentielle Heritage Culture dieselbe nostalgische Rolle wie etwa die fiktive ländliche Idylle eines ewigen green and pleasant land im Mythenschatz der Middle Class.
Forever down in Albion
1966 bleibt, nicht nur als Jahr des Weltmeistertitels, sondern als die Zeit der letzten Generationen von Fußballern und AnhängerInnen, die jeweils noch glaubhaft das Selbstbild der Working Class verkörperten, das nur noch mittels Zeitmaschine erreichbare Ideal, dem das beautiful game bis in alle Ewigkeit nachzurennen verdammt ist.
Die alle vier Jahre von neuem wiederbelebte, große Illusion ist, dass ein zweiter Weltmeistertitel diesen in Wahrheit viel viel tiefer gehenden Fluch brechen könnte.
Dank der verständlichen Unfähigkeit sämtlicher nachfolgender Fußballergenerationen, dem Alpdruck dieser historischen Last zu widerstehen, wird England nie wieder Weltmeister und dieses fatale Missverständnis somit auch nie aufgeklärt. Und alle können weiter ungestört ihrem Selbstbetrug nachgehen.
Robert Rotifer
Die bejammerte Gegenwart wird indessen zur Projektionsfläche all dessen, was aus Sicht des gesunden Volksempfindens seit den Sixties in der britischen Gesellschaft schief gelaufen ist, eklatante Widersprüche inbegriffen.
Also: Es gibt keine Disziplin mehr, verhätschelte junge Männer, denen das von ihrem sozialen Rang her nicht zusteht, leben in Palästen, verprassen Reichtümer und stehen unter der Fuchtel ihrer gierigen Frauen (in sämtlichen Medien "wags" genannt, steht für "wives and girlfriends", klingt aber verdächtig nach "slag"=Schlampe).
Und jetzt mit Fabio Capello, wie einst bei Sven Goran Eriksson, kommt noch jene allergrößte Pein des modernen Lebens, die in alle Fasern des englischen Alltags eingedrungene Figur des ärgerlich besserwisserischen Ausländers dazu, charakterisierbar in drei Phasen:
- Der intellektuelle Kontinentale, der unsere ungestümen Boys organisieren wird.
- Das fremdsprachige Enigma, das unsere Boys nicht verstehen können.
- Wir dachten er sei ein Genie, aber wie man an seinem gebrochenen Englisch hört, ist er in seinem Ausländersein unerträglich stur, in Wahrheit ein Blender, ja vielleicht sogar heimlich dumm.
Die Boys, die ja eigentlich diszipliniert werden sollen, werden in Phase drei zu Opfern des ignoranten Ausländers, der ihre Kultur nicht versteht. Sie spielen nicht etwa schlecht, weil sie - wie Rooney, der gegen Algerien praktisch keinen einzigen Ball anzunehmen vermochte - nicht besser könnten, sondern weil der eitle Fremde die englischen Löwen "nicht von der Leine lässt".
Ja, schlimmer noch, er zwingt sie zu sinnlosen Spielanalysen, sie sind gelangweilt und dürfen nicht einmal ein Bier trinken, was ihr Leben schlicht zur Hölle macht.
Um zu diesen fragwürdigen Erkenntnissen zu kommen, muss ich mein Heim gar nicht erst mit Boulevardblättern beschmutzen, das schafft sogar der sonst so besonnene Guardian, der das englische Team "erwürgt" sieht und John Terrys kleinen Ausritt, öffentlich einen Platz für Joe Cole und eine 4-5-1 Formation mit Rooney als alleiniger Spitze zu fordern, als gescheiterten Putschversuch auf eine Stufe mit den vergeblichen Versuchen der Labour Party stellt, vor der Wahl Gordon Brown loszuwerden.
Allerdings, gewisse Ähnlichkeiten mit der Labour Party vor den letzten Wahlen sind der Geisteshaltung der englischen Fußballnation nicht abzusprechen. Und aus genau diesem Grund musste ich all das noch schnell vor dem Slowenien-Spiel loswerden. Am Donnerstagmorgen könnte das ganze neurotische Spiel nämlich bereits schon vorzeitig aus sein.