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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

20. 6. 2010 - 21:29

WM-Journal '10-42.

Brasilien auf dem Prüfstand, und immer noch ist unklar, wie schwergewichtig sie sind. Und die Ivoirer tanzen auf den Spuren von Kamerun.

Seit 1. Juni erscheint dieses WM-Journal zum Turnier in Südafrika - mit einer Ausgabe pro Spiel und zusätzlichen Analysen.
Hier auch in der Übersicht.

Das WM-Journal gibt es auch als Podcast, einmal täglich, immer gegen Mittag.

Die Fakten zum Spiel Brasilien - Cote d'Ivoire 3:1.

Offizielles: die FIFA-Seite und die WM-Spezial-Site der Sport-Kollegen.

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Eigentlich sollte man ja auf Brasilien, den schleichenden Favoriten schauen, der sich keine Fehler erlaubt, der sich mit italienischen Resultaten vorwärts schiebt, der Effektivität über das "jogo bonito" setzt.

Dann bleibt mein Blick aber doch an der Aufstellung der Cote d'Ivoire hängen und ich habe (schon zum wiederholten Male hier) ein Deja Vu: Das war doch schon gestern bei Kamerun zu sehen, dass nicht ein verantwortsvoller, die Realitäten abschätzender und auf die Spielanlage achtender Coach das Team aufstellt, sondern der Star.

Der Star ist Didier Drogba.
Didier Drogba ist, das sieht jeder Elefant auf 100 Meter, nicht fit.
Trotzdem stellt Didier Drogba Didier Drogba auf.
Das ist unfassbar doof und unverantwortlich. Und womöglich spielentscheidend.

Jammer-Zirkus

Denn die offensichtliche Schwäche des Anführers lähmt das Team dahinter. Der sonst so gute Kalou - unsichtbar wie Dindane. Eboue, sonst der Druckmacher über rechts - abgemeldet. Yaya Toure, der zentrale Einpeitscher, nur mit Ballverlusten zu sehen.

Dass Brasilien in Wahrheit ähnliche Probleme hat, fällt ob dieses jammervollen Zirkus gar nicht auf.

Dort ist Kaka, der zentrale Spieler, auch nicht fit. Aber die Teamleistung hat sich für das Risiko ihn spielen zu lassen, entschlossen. Kaka verschupft zwölf von elf Bällen. Aber er gibt auch den entscheidenden Pass zum Tor, durch einen Spalt in der Abwehr, der nur so groß ist wie ein Mauseloch.
Somit war es das - kollektiv abgewogene - Risiko dann eben auch wert.

Ego-Deja Vus

Wahrscheinlich wird Coach Dunga Kaka irgendwann früh in der 2. Halbzeit befreien und dann von einem auf ihn zugeschnittenen, verschliffenen 4-5-1 auf ein 4-4-2 umstellen.
Das ist aber dann auch eine Entscheidung, die von der Vernunft getragen ist, nicht von einem Ego.

Svengo Eriksson müsste, wenn er wirklich das Ruder herumreißen will, Drogba vom Platz nehmen und gleichzeitig sein System umstellen. Beides wird er sich aber - gegen den Willen des Stars - nicht trauen. Was dann tendenziell so enden würde wie gestern - ich hab das Deja Vu ja schon besprochen.

Aber diese (oder andere) Umstellungen sind nötig, damit aus diesem extrem schwachen Match zweier in allen Belangen unendlich gut veranlagter Teams eine halbwegs anständige Partie wird.

In der 2. Halbzeit...

passiert dann länger keine dieser Umstellungen, weil sich Luis Fabiano in der 50. Minute gegen gefühlte sieben Verteidiger im Alleingang durchsetzt und die vorzeitige Entscheidung herbeiführt.

Erst dann traut sich Eriksson den Adjudanten seines Kaisers, nämlich Dindane, vom Platz zu nehmen und durch den Trickster Gervinho zu ersetzen.
Das fruchtet auch nicht, weil sich Team Brasil plötzlich befreit hat und (über den körperlich merkbar matten) Kaka seine tollste Kombination mit dem 3. Tor abschließt.

Die Messen sind gesungen. Der Rest ist nur noch Dreingabe.
Sven-Göran Eriksson, der schwedische Coach der Cote d'Ivoire bekennt seine Machtlosigkeit durch Wechsel innerhalb des (Drogba-)Systems. Der macht dann noch den Anschlusstreffer (weil Gervinho mit einem Solo übers ganze Feld die Pace gesetzt hatte); das ist aber sehr egal, die Niederlage nicht abzuwenden, weitere echte Torszenen der Ivoirer bleiben aus.

Die Coaching-Unbedachtheit mit Kaka

Dann rächt sich auf der anderen Seite die andere Unbedachtheit, die von Dunga. Der hat seinen geschwächten Star nämlich nicht runtergenommen - Fehler.
Kaka lässt sich in depperte Kämpfe und Rudelbildungen ein, und muss, weil Kader Keita das ausnützt und durch absichtliches In-den-Mann-Laufen ein Foul (Au, Mama, der andere Bub hat mich voll ur ins Gesicht gehaut!) simuliert, mit gelb/rot vom Platz.

Wurscht, weil dem Spielmacherchen eine Pause eh gut tut - aber auch ein Zeichen dafür, dass bei Brasilien einiges nicht passt. Wer sich seiner Sache sicher ist, lässt sich nicht fünf Minuten vor Schluss in kindliche Rangeleien reindrängen.

Was Brasilien wirklich kann, wissen wir aus diesen und anderen Gründen immer noch nicht: Wie schauen die aus, wenn sie einmal unter Druck gesetzt werden? Was, wenn die Flöhe (Kaka, Robinho) einmal außer Gefecht gesetzt sind? Und: Wie schwer ist Elano, bislang der Verlässlichste, verletzt?

Künftige Nagelproben

Die besten Geschichten passieren aber rund um die völlig durchgeknallte französische Nationalmannschaft - das hätte ich jetzt schon gerne verfilmt, bitte!

Wir werden es erst im Achtelfinale erfahren, denn im letzten Gruppenspiel kann sich Brasilien schon zurücklehnen.

Die Ivoirer haben sich von ihren Mitkonkurrenten abhängig gemacht. Ohne Not, wie ich meine. Und das mit dem klaren Vorab-Wissen, dass es bei den Kollegen von Kamerun schon schiefgegangen ist. Und absurderweise wird so ausgerechnet ihr Spiel gegen das unerhört disziplinierte Nordkorea ein echter Härtetest werden, was strategisches Können betrifft. Und die wahre Nagelprobe sein.