Erstellt am: 20. 6. 2010 - 12:02 Uhr
Antinationales Public Viewing
Die große Hysterie, wie vor vier Jahren bei der WM in Deutschland, blieb bislang aus. Damals überbot man sich gegenseitig, die verrücktesten, unentdecktesten Public-Viewing-Orte der Stadt zu finden: Wohnwagenparks in Mitte, verlassene Schwimmbäder, urige Gehörlosen-Fussballkneipen, zu jedem Land die passende Bar mit native Speakern und ist am Schluss, weil es zu voll war und die Fans zu sehr genervt haben, dann doch lieber zu Hause geblieben.
Dieses Jahr hat in Kreuzberg wirklich jeder Imbiss, jeder Nussladen, jede Dönerbude und Falafel Station, jede Sushi-und Cocktailbar, jeder Späti und jedes Restaurant eine Leinwand auf der Straße, so dass man, auch wenn man auf den Straßen unterwegs ist, im Gehen das ganze Spiel verfolgen kann. Auch der liebliche Ton der Vuvuzelas begleitet den Kiezspaziergang, ebbt manchmal etwas ab und schwillt wieder an, wenn man sich dem nächsten Bildschirm nähert.
Die schlimmen Hurra -Deutschland!-Fans sammeln sich zum Glück an der Fanmeile beim Olympiastadion und die üblichen betrunkenen Eventtouristen treiben ihr tumbes Unwesen eher im Prenzlauer Berg. Hier im hintersten Kreuzberg hat man seine Ruhe.
Die alte Diskussion, wie man sich als Linker zur eigenen Mannschaft zu verhalten hat, ist dagegen wieder topaktuell.
Der Antideutsche will natürlich, dass die deutsche Mannschaft früh nach Hause fährt, und sieht hinter jeder deutschen Fahne die faschistische Kontinuität, aber der aufgeklärte Linke ist die deutsche Selbstzerknirschung leid, wenn sie es verbietet die eigene Mannschaft zu unterstützen und weist darauf hin, dass nun doch mal fast alle anderen Fußballfans aus anderen Nationen für ihr Land sind.
Trotzdem, das Unbehagen beim vermehrten Auftreten der deutschen Fahne ist da, und auch das Gerede vom "unverkrampften Patriotismus" das seit dem sogenannten "Sommermärchen 2006" die Runde macht, ist unerträglich. Die Überreaktion aus dem antideutschen Lager allerdings auch. Als Einführung zum Fußball - und Gruppenverhalten und zur politischen Bildung werden Adorno-Videos verschickt, worin der Altmeister erklärt, wie sich Einzelgruppe und Fremdgruppe verhalten und dass eine Sportveranstaltung, egal in welchem Land, immer fremdenfeindlich ist, weil sie die einfachsten Gesetze der Gastfreundschaft außer Kraft setzt.
Antinationales Fußballschauen scheint die einzige Lösung aus dem Dilemma zu sein. Die Einladung des Prinzessinengartens, einem "Community Gardening Projekt", trägt die Überschrift "Den Ball flach halten":
"Wir zeigen die WM in entspannter Gartenatmosphäre und werden dabei versuchen den Ball schön flach zu halten. Die Atmosphäre sollte eher Campingplatz 1982 sein. Statt 5000 Lumen Beamer, Fahnenmeer und Großbildleinwand werden wir kleinere Fernsehinseln im Garten aufbauen. Dazu suchen wir noch ein paar alte Geräte. Am Samstag wird Till unseren selbstangebauten Mangold direkt verarbeiten."
Die Reihe About party wirbt für: "Alle Spiele. Alle Tore. Keine Hymnen" und klärt auf:
aboutparty.net/keine_hymnen
"Von Zeit zu Zeit werden hochkonkurrierende Spezialarbeiter namens Fußballprofis nach Leistungs- und Staatsangehörigkeitskritierien zusammengewürfelt und in repräsentativer Absicht als nationale Elfen gegeneinander aufs Feld geschickt. Wer trotz dieser unschönen Ausgangsbedingungen Freude daran empfindet, sich die mitunter sehenswerten Ballkünste anzuschauen, ist gezwungen, sich mit den patriotischen Motiven dieser Veranstaltung auseinanderzusetzen. Der hierzulande mit Deutschland- und Bierfahne zelebrierte Fußballnationalismus, der stets ein Besonderer bleibt, weil er nicht nur 'deutsche Siege' feiert, sondern immer auch das Recht der Deutschen auf von den Verbrechen des Nationalsozialismus unbelasteten nationalen Taumel reklamiert" usw. und so fort.
Wer sich aus den ganzen Diskussionen raushalten will, der antwortet auf die Frage, wer die WM gewinnen soll, am besten mit dem Allgemeinplatz: Ich bin für die, die am schönsten spielen.