Erstellt am: 20. 6. 2010 - 02:14 Uhr
WM-Journal '10-39.
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Es ist einer der Meta-Trends, der bei dieser WM auffällt: Die afrikanischen Teams haben begonnen sich die vielen in Europa geborenen Kids der 2. Generation zurückzuholen. Was sich in den letzten Monaten als fast schon flächendeckender systematischer Trend durchgesetzt hat, trägt in Südafrika zwar noch keine Früchte, wird aber das Spiel und die Philosophie der afrikanischen Teams im nächsten Jahrzehnt drastisch beeinflussen.
Egal, ob bei Algerien, Ghana oder Kamerun: Die afrikanischen Nationalmannschaften sind angetreten den Brain Drain, den Kultur- und Wissenstransfer, der sie die letzten Jahrzehnte ihrer besten Kräfte beraubt hatte, umzukehren.
Das geht nicht ohne Schmerzen und Probleme ab. Womöglich war das heutige Ausscheiden Kameruns das Ende einer diesbezüglichen Ära.
Zur Erklärung:
Praktisch alle afrikanischen Nationen geben ihre Spitzenkräfte in die sogenannte Erste Welt, also an die ehemaligen Kolonial-Mächte ab. Das ist im akademischen Bereich ebenso wie in der Wissenschaft oder eben auch dem Fußball.
Die afrikanische Diaspora in (vor allem) Europa war bislang ein Jungbrunnen für den alten Kontinent, der permanenten Input braucht. Das französische Erfolgs-Modell etwa basiert praktisch ausschließlich auf den Akteuren der 2. Generation von afrikanischen Einwanderern. Und auch die Niederlande, Deutschland oder die Schweiz profitierten in den letzten Jahren von den Secondos, den Menschen mit Migrations-Hintergrund.
Das war und ist durchaus hilfreich für die Bemühungen um eine sinnhafte Integrations-Politik in den europäischen Ländern.
Bloß: Den afrikanischen Teams hat diese Entwicklung nichts gebracht. Seit den etwa 10 bis 15 Jahren, seit denen auch Afrikaner der 2. Generation von den europäischen Verbänden hofiert wurden, doch den attraktiveren Teil ihrer Doppelstaatsbürgerschaften anzunehmen, stagniert das Niveau der afrikanischen Nationalmannschaften. Und der Brain Drain ist sicher ein Teil der Erklärung dafür.
Community-Rückholung
Seit einiger Zeit drehen die Verbände mit starken Communities in Europa das allerdings um: Man fischt in den europäischen Pools, versucht zunehmend Talente zurück in den Heimatverband der Eltern zu holen.
Da hat natürlich auch eine kürzlich installierte neue FIFA-Regelung geholfen. Seitdem ist es nämlich möglich, dass Doppelstaatsbürger, die für ein Land Jugend-Länderspiele bestritten hatten, sich ab dem Erwachsenen-Alter umentscheiden können und für das andere Land selektionierbar sind.
Peter Odemwingie, der in Russland geborene Nigerianer ist ein frühes Beispiel für die Umkehrung des Transfers, das Gezerre, das die Niederlande und die Cote d'Ivoire um Salomon Kalou veranstalteten, machte erstmals den symbolischen Wert einer solchen Entscheidung öffentlich.
In der Praxis sieht das dann etwa so aus: Aus der französischen Equipe, die 2001 U17-Weltmeister wurde, haben sich etwa Mourad Meghni (schon länger) oder Hassan Yebda (erst heuer, er hat bis zur U21 für Frankreich gespielt) für Algerien entschieden, Chaouki Ben Saada für Tunesien oder Emerse Faé für die Cote d'Ivoire.
Musterbeispiel Algerien
Algerien hat sich in den letzten Monaten systematisch nicht nur in Frankreich, sondern auch in England und ganz Europa umgesehen und Talente mit algerischem Pass mit der Chance auf eine WM-Teilnahme gelockt. Mindestens neun Kaderspieler sind aktuell "Secondos" mit einer Jugendnationalberufungs-Geschichte von anderswo.
Immerhin hat das - nach einem Afrika-Cup-Semifinale und der WM-Qualifikation ein Remis gegen England erbracht. Und das ist erst der Anfang - und ein Ansporn für die eifersüchtige Konkurrenz in Tunesien und Marokko.
Der spektakulärste Fall ist der des Kevin Prince Boateng. Der Berliner Kiez-Klopper wurde - nachdem er wegen diverser Auffälligkeiten Brösel mit dem DFB, dessen Nachwuchs-Abteilungen er durchlaufen hatte, bekam - von Ghana mit Leichtigkeit abgeworben.
Sein Halbbruder Jerome hat sich für Deutschland entschieden und steht ebenfalls im WM-Kader - auf der anderen Seite.
Der Kameruner Rückschlag
Auch Kamerun hat in Deutschland ganz gezielt Doppelstaatsbürger rekrutiert: Joel Matip von Schalke, Georges Mandjack von Kaiserslautern oder Eric Choupo-Moting. Dazu kamen - auch jüngst - die "Franzosen" Bassong und Assou-Ekotto.
Die Spieler-Revolte vor dem Dänemark-Match hatte im übrigen zur Folge, dass die meisten der "Neuen", vor allem die "Deutschen" (Matip und Choupo) ihre Startplätze verloren hatten.
Denn natürlich sind die zwischen den Kulturen pendelnden Spieler, die womöglich anders aussehen und nicht die heimatlichen Dialekte sprechen, auch eine Bedrohung für die Alteingesessenen in den afrikanischen Teams. Sie sitzen also zwischen den Stühlen.
Ich will jetzt hier nicht behaupten, dass der kamerunische Putsch der letzte Abwehrkampf gegen die neue kulturelle Durchmischung, die in den nächsten Jahren unweigerlich und flächendeckend die meisten afrikanischen Nationen umfassen wird, war.
Es ist womöglich nur ein Zufall gewesen.
Das Ende der afrikanischen Stagnation
Die aktuelle Stagnation äußert sich bei der aktuellen WM besonders drastisch, was mit der aktuellen Krise bei den großen westafrikanischen Teams und einer unglücklichen Auslosung zu tun hat.
Die anders gelagerte fußballerische Ausbildung der in Europa großgewordenen Pass-Afrikaner wird aber in jedem Fall Einfluss auf das Spiel der afrikanischen Nationalmannschaften nehmen und den Status der Stagnation überwinden helfen.
Das ist, wenn man die Kolonialgeschichte in Betracht zieht, ein feiner Treppenwitz.
Umgekehrt lautet die Botschaft an die europäischen Nationen: Seid euch nicht zu sicher. Die "Straßen-Fußballer", die man aus den migrantischen Milieus, deren Aufsteiger-Mentalität stärker ist als in den Mehrheitsgesellschaften, zu gewinnen glaubt, können sich mehr und mehr für die zweite Heimat entscheiden. Der ÖFB hat etwa im Fall Bahadir schon tief in den Gatsch gegriffen.
Und bei den Niederlanden sind (ein Blick auf das Team zeigt es deutlich) aktuell auffällig viele Weißbrote unterwegs. Mit Elia, Babel oder Afellay sind gerade einmal ein paar Kräfte aus migrantischen Milieus - da droht ein Rückfall in Prä-Gullit/Rijkardsche Zeiten.
Rückstoß in die zweite Heimat
Es werden weniger die lokalen Großmächte wie Ägypten, Nigeria oder Südafrika sein, die auf mächtige Ligen und große Reservoirs setzen können - sondern eher die kleineren westafrikanischen Nationen, die sich auf die Suche nach gutem in Europa heimisch gewordenem Nachwuchs begeben werden.
Das ist letztlich eine Wiederholung der Geschichten rund um die migrantischen Rückholungs-Aktionen, die der türkische Verband, aber auch die diversen Ex-Yugo-Verbände in den letzten Jahrzehnten durchgeführt haben: Die schicken ihre Scouts quer durch Europa, um die Talente für die alte Heimat zu gewinnen. Bei Özil ist es zb nicht gelungen, bei Sahin schon. Und die Anzahl der Ex-Yugo-Teamspieler mit deutschen Akzent ist bereits sehr hoch.
Was das mit uns zu tun hat?
Alles, weil alles mit allem zu tun hat, in dieser rapide globalisierten Fußball-Welt. Und auch ein wenig die Paranoia rechtfertigt, die vor David Alabas erstem A-Länderspiel geherrscht hatte. Nigeria will "uns" das Jahrhunderttalent abspenstig machen, hieß es damals. Ein Unfug - aber immerhin hat es zur Auseinandersetzung mit der Wirkung der Migrations-Ströme geführt. Und das war ja erst der Anfang einer Entwicklung, die die nächsten Jahre noch einiges bewegen wird.