Erstellt am: 28. 6. 2010 - 16:00 Uhr
Vier Kilometer von der Hoffnung entfernt
Ich lebte 15 Jahre lang in Obelia, dem angeblich gefährlichsten und unangesehensten Randviertel Sofias. Wie ein Freund von mir sagte: „Der einzige Ort, an dem ich gern Geld für ein Taxi ausgebe, ist Obelia. Um da rauszukommen“.
Obelia wird vom nächstgelegenen Bezirk „Hoffnung“ (die Bezirke in Bulgariens Hauptstadt heißen Freundschaft, Jugend, Freiheit und Hoffnung) durch ein 4 km² großes Feld getrennt. Wie der Name Obelia entstanden ist, weiß keiner. In unserer Familie erzählt man sich die Geschichte, dass italienische Kreuzritter durch die Gegend marschierten, das schöne Vitosha Gebirge bei Sofia sahen, sich auf den Boden knieten und voller Verwunderung „O Bella!“ riefen. Das hörten die Einheimischen, sprachen es slawisch aus und so entstand der Name Obelia. „Nur 4 Kilometer von der Hoffnung entfernt“, scherzten wir in unseren Schuljahren immer.
Der weiße Block

Todor Ovtcharov
Mein vierzehnstöckiger Block befand sich am Rande von Obelia. Im neunten Stock, in dem ich wohnte, konnte man das Feld und Hoffnung (dort befanden sich nur langweilige Plattenbauten) beobachten. Meiner war der prominenteste Block in ganz Obelia. Nicht, weil er anders als die anderen gebaut wurde oder jemand, der ganz wichtig ist, dort wohnte – es war der einzige weiße Block in Obelia. Alle andere waren grau, gelblich oder dunkelgrün. Nur unserer stand dort wie ein weißer Riese und ich glaube, dass sogar die Bewohner von Hoffnung, die den Block auf der anderen Seite des Feldes sehen konnten, auf seine vollkommene weiße Farbe neidisch waren. Jeder andere Block in Obelia hatte eine Nummer, nur unsrer war bekannt als „der weiße Block“. An die Nummer konnte sich keiner erinnern. Vor dem Block gab es zwei Bänke und zwei kleine Trauerweiden, die der Hausmeister selber gepflanzt hatte und auf die er zudem besonders stolz war. Auf den Bänken saßen immer dieselben drei alten Frauen, die alles über die Bewohner des weißen Blockes wussten. Und nur schwer blieb etwas ein Geheimnis.
Das Leben im Ghetto
In der Geschichte des weißen Blocks gab es drei wichtige Ereignisse: Einmal wurden wir Meister in der inoffiziellen Obelia Fußballmeisterschaft (die natürlich auf dem Feld ausgetragen wurde). Onkel Emo, der LKW-Fahrer vom zehnten Stock, schoss zwei Tore und Vlado, der etwas verrückte Zeitungsverkäufer vom ersten, hielt einen Elfmeter. Das war ein Jubel! „Wir haben gegen Block 267 2:0 gewonnen!“ Da fuhr Vlado in den nächsten paar Wochen stolz in seinem Lada durch Obelia. Aus seinen aus Plastiktonnen gemachten Boxen erklang fröhliche Popfolkmusik.
Kaum einen Monat später auch schon das zweite große Ereignis im weißen Block: Onkel Misho, unser Hausmeister, der, der die Trauerweiden gepflanzt hatte, gab das ganze Geld der sommerlichen Wasserversorgung für Traubenschnaps aus. Die Behörden kamen und mitten im Juli wurde unser Wasser abgestellt. Einen Monat lang hatte der ganze weiße Block kein Wasser. Da waren die Bewohner des weißen Blocks nicht mehr so angesehen, wie nach dem errungenen Fußballsieg und man konnte sie an ihrem starken Schweißgeruch erkennen. Onkel Misho wurde auch einige Male öffentlich zusammengeschlagen, doch das änderte nichts an der Lage.
Vlado, der Torwart, schaffte es irgendwie, ein Loch in die öffentliche Wasserleitung zu bohren und alle Blockbewohner mit Wasser zu versorgen. Die Menschen standen Schlange vor dem kaputten Rohr, um Wasser für ihren Alltag zu besorgen. Irgendwann hatten alle wieder genügend Geld gesammelt und das Wasser lief wieder. Das Gute daran: die Krise stärkte die Solidarität der Blockbewohner.

Todor Ovtcharov
Das dritte Ereignis war etwas Trauriges: Es war die Zeit der Pyramidenunternehmen. Mitte der Neunziger gab es in Bulgarien unzählige Banken, die mit 30% Zinsen lockten. Da sich die bulgarischen Bürger wenig mit Finanzen auskennen, sahen sie in diesem Angebot einen magischen Weg, ihre Ersparnisse zu vervielfachen. Nach ein paar Monaten gingen all diese Banken pleite und ihre Leiter verschwanden mit dem Geld nach Costa Rica. Eine sehr nette Frau aus dem elften Stock hatte ihr ganzes Geld verloren. Sie wusste nicht mehr weiter und stürzte sich aus dem Fenster. Unsere bürgerliche Gesellschaft sei jung und wir sollten daraus lernen, wurde uns in die Nachrichten gesagt. Nur für die nette Frau aus dem elften Stock des weißen Blocks war das die letzte Lektion.
Der normalerweise fröhliche und immer laute weiße Block verstummte. Alle weinten zu Hause und der weiße Block war irgendwie grau, wie alle anderen in der Gegend. Ein paar Jahre später zog ich mit meiner Familie weg aus Obelia in ein besseres Viertel von Sofia. Wir hatten jetzt ein Haus im Vitosha Gebirge, wo eigentlich nur reiche Leute wohnen. Doch wenn ich auf der Terrasse unseres Hauses stehe, kann ich immer noch Obelia sehen, mit dem weißen Block im Vordergrund, nur 4 Kilometer von der Hoffnung entfernt.