Erstellt am: 18. 6. 2010 - 12:55 Uhr
Argentinscher Feuerteufel
Es war ein verdammt mieses Jahr für Ramiro.
Seine Mutter muss ihren Laden, ein Käsegeschäft, schließen, sein Vater ignoriert die schockierende Tumordiagnose, indem er einfach weiter Taxi fährt und Ramiros Freundin setzt dem nerdigen Computerfreak Hörner auf, noch dazu mit seinem besten Freund.
Damit nicht genug, spürt Ramiro, als er auf der Toilette eines Gerichtsgebäudes pinkelt, den kalten, stählernen Lauf einer Waffe in seinem Nacken. Er erkennt die dünnen Arme eines Mannes wieder, den er vor wenigen Minuten bei einer Verhandlung als den berüchtigten chinesischen Brandstifter "El Fosforito" ("das Streichhölzchen") identifizieren sollte. Der laute Hardrock der argentinischen Chinesen "Los Tintoreros", der durch die Kopfhörer seines iPods plärrt, macht es ihm zwar unmöglich, das Geschrei seines Entführers und der mittlerweile ihn umzingelnden Polizisten zu verstehen, doch all die Pistolen und das wilde Gefuchtel machen ihm klar, dass er in großen Schwierigkeiten steckt.
Das argentinische Stockholm-Syndrom
"Ein Chinese auf dem Fahrrad" beginnt wie eine Mischung aus Roadmovie und Kriminalgeschichte. Angelehnt an ein Verbrechen, das Buenos Aires im Sommer 2005 in Atem hielt, entspinnt der argentinische Autor Ariel Magnus einen amüsanten Roman, der schon nach den ersten Seiten seine ganz eigenwillige Erzählweise bietet. Zwar wird in wenigen Flashbacks erklärt, wie Erzähler und Hauptfigur Ramiro durch einen blöden Zufall in die "Polizeiarbeit" und Festnahme des vermeintlichen Brandstifters verstickt wird, allerdings entwickelt sich die Geschichte in kürzester Zeit zu einer pointierten Kultursatire.
Kiepenheuer & Witsch
Der Chinese Li, der mutmaßliche Möbelhausanzünder "El Fosforito", entführt Ramiro nicht nur, sondern versteckt ihn in seiner eigenen Wohnung im Chinesenviertel von Buenos Aires. Denn sein Plan ist, den jungen argentinischen Computer-Nerd davon zu überzeugen, dass alles eine Verschwörung ist und bittet ihn gleichzeitig um Hilfe diese aufzudecken. Doch Lis Methoden sind recht unorthodox, lässt er die Geisel doch lange über seine Vorhaben im Dunkeln tappen. So hat Ramiro genügend Zeit, sich Erklärungen für das Verhalten der Menschen um ihn herum, die er nicht versteht, zusammen zu fantasieren und ihre Gesten und Handlungen auf obskurer Weise zu interpretieren.
Erst Stück für Stück klären sich die kulturellen Unterschiede auf und im Lauf einer heftigen Romanze des Entführten mit einer Chinesin enttarnen sich die geheimnisvollen Vorstellungen Ramiros dann endgültig als krude Mischung aus Vorurteilen und stereotypen Mustern.
Eigentlich sind wir alle Chinesen
Das Original "Un chino en bicicleta" ist schon vor drei Jahren erschienen und bescherte dem damals 32-jährigen Autor den internationalen Literaturpreis Premio La otra Orilla. Ein Grund dafür ist sicher der hypnotisierende und vor allem extrem witzige Schreibstil. Ariel Magnus' Hauptfigur hantelt sich mit assoziativen Gedankensprüngen von Beistrich zu Beistrich und kreiert dadurch eine nicht enden wollende Ausschweifungsflut, die jedoch nach einiger Zeit durch schräge Sprachanalogien wieder zu ihrem Ursprung zurückgelenkt wird. Erst dann wird einem klar, dass die zuerst nebensächlich erscheinenden Gedankenfetzen kleine Teile eines größeren Erzähl- und vor allem Stimmungsmosaiks sind.
Ariel Magnus spielt mit unseren Erwartungen an Erzählstruktur und Genremustern. Immer wieder reißt die Kriminalgeschichte ab, um den Wirren der kulturellen Vorurteile Platz zu machen. Dabei dekonstruiert Magnus zuerst die geläufigen Stereotypen, nur um sie im nächsten Augenblick mit verschmitztem Lächeln wieder zusammenzusetzen. Das alles noch dazu durch die Augen eines Argentiniers, dessen absurde Vorstellungen der asiatischen Kultur den Spiegel seiner eigenen sozialen Verwurzelung darstellen.
© Maximiliano Luna/Telam
Dass der Roman stellenweise zerklüftet und nicht stringent wirkt, ergibt sich durch seine Entstehungsgeschichte. Denn "Ein Chinese auf dem Fahrrad" ist auch eine "Revanche" des Autors. Ursprünglich hatte Ariel Magnus eine journalistische Reportage angedacht, da in den letzten Jahren vermehrt Chinesen in Buenos Aires zugezogen sind und er diese Entwicklung mit seiner analytisch präzisen Beobachtungsgabe verfolgt hat. Doch die Idee wurde, wie der Autor selbst formuliert, mit Enthusiasmus abgelehnt. So erklärt sich auch die teils flapsige Unschärfe der beschriebenen asiatischen Kultur, die manchmal mehr in Richtung Japan zu schielen scheint, und mit der uns der Autor ein bisschen in die Irre führt.
Doch auch all das scheinen nur weitere Details eines gut durchdachten Masterplans der führenden Weltmacht zu sein, denn schließlich stammen wir alle von den Chinesen ab, wenn es nach der verschrobenen demographischen Theorie eines Charakters in "Der Chinese auf dem Fahrrad" geht. Aber Achtung, die Fantasie der genetischen Merkmale für die Unsterblichkeit der östlichen Kultur ist noch die harmloseste der aberwitzigen Spinnereien in diesem Roman.