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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

13. 6. 2010 - 16:46

WM-Journal '10-17.

Die Sache mit der Zuschreibung: warum das, was wir glauben dann unsere "Realität" bildet. Am Beispiel des "großen" Spiels Ghana - Serbien, das sich erst in der 2. Hälfte tatsächlich groß macht.

Seit 1. Juni erscheint dieses WM-Journal zum Turnier in Südafrika - mit einer Ausgabe pro Spiel.

Hier auch in der schönen Übersicht.

Das WM-Journal gibt es auch als Podcast. Heute aus technischen Gründen verspätet, sorry dafür!

Die Fakten zum Spiel Ghana - Serbien.

Alle FM4-Stories zur WM, alle Rundherum-Geschichten aus Südafrika, wie etwa Johnny Bliss' schöne Vorort-Reportage.

Offizielles: die FIFA-Seite und die WM-Spezial-Site der Sport-Kollegen.

Public Viewing beim FM4 WM Quartier im Wiener WUK.

Ich frag mich jetzt schon... ist das noch Algerien - Slowenien oder schon Ghana - Serbien? Und: wo wäre denn der echte Unterschied?
Flottes Hin und Her, vertikaler Ansatz von zumindest denen in Weiß, hochvorsichtiger Ansatz der Ex-Yugos, keine Torszenen - die einzige Differenz ist der klingendere Name und die bessere Kulisse im schöneren Stadion. So leicht lassen wir uns also ablinken und besseres Niveau einreden.

Okay, ich überspitze ein wenig. Klar ist zwischen dem Defensiv-Ansatz von Serbien und dem von Slowenien ein leiser Unterschied. Aber in der Hauptsache liegt das an der Zuschreibung: Weil wir von den Serben schon so viel Klasse gesehen haben in unseren kollektiven Fußballer-Leben, sehen sie dann besser aus als die unbekannten und weniger glamorösen Slowenen. Und natürlich sind die Angriffs-Bemühungen von Ghana technisch eine Klasse hochwertiger als die von Algerien - aber auch hier overrult die Zuschreibung, also das Wissen um die Möglichkeit, dann die Realität.

Letztlich ist es also so wie im Spiel davor...

Abgesehen davon: während die Serben zumindest taktisch (4-4-2, mit durchaus beweglichen Außen) wie erwartet agieren (wenn auch allzu statisch und langsam) überraschte Rajevac' Ghana durchaus.

Zum einen hat man auf den völlig außer Tritt befindlichen Appiah verzichtet (schon einmal ein Schlüssel zum Erfolg). Zum anderen ist das 4-2-3-1 diesmal mit gleich vier "Deutschen" aufgefüllt. Vorsah (neben Kapitän Mensah in der Innenverteidigung) und der rechte Flügel Tagoe von Hoffenheim, der Sarpei-Hans von Leverkusen als Links-Verteidiger, und der Kevin, der Prince, der Ballack-Treter Boateng, die Berliner Kiez-Legende mit dem dummen Spielkarten-Tattoo am Hals, ist im defensiven Mittelfeld als Rammbock neben dem zierlichen Annan mit dabei. Nur einer der U20-Weltmeister, wie zu erwarten André Ayew, der Sohn des großen Abédi Pelé, darf mitspielen.

Weil aber Asamoah in der Zentrale und Gyan ganz vorne taktisch enorm diszipliniert spielen ist das ghanesische System dem serbischen sogar überlegen, weil flexibler.
Vielleicht sind die auch deshalb so realtiv planlos, abseits der Standards. Und warum ich den langen Holpermann Zigic, nominelle serbische Spitze, immer nur hinten als Hilfs-Verteidiger sehe, würde ich auch gern erklärt bekommen.

Der Rest ersieht sich mit dem Blick auf den Platz. Sofern man sich halt (siehe oben) keine Filter davorschiebt, wie die österreichischen Halbzeit-"Experten", die ernsthaft Serbien mit besseren Spielanteilen gesehen haben wollen...

In der zweiten Hälfte kommt dann alles ganz anders...

... weil beide Teams das strategische Korsett aufschnüren.
Und Ghana auch die Balance zwischen Vorsicht und Offensivität besser findet.
Denn in der zweiten Halbzeit finden die Aktionen der Teams auch ein Ende, anstatt wie in der ersten nur zu versickern.
Und genau das ist es, was dann aus einem Fußball-Spiel erst ein tolles Fußball-Spiel macht - die spürbare Emotion auf dem Feld.

Entscheidend war nicht der dumme (und bisher gab es nur Platzverweise aus Dummheit, nichts wirklich diabolisches) Auschluss von Lukovic - denn Antics Team war im 4-4-1 mindestens genau so gut wie zuvor. Auch nicht das Handspiel von Kuzmanovic, die Nervenkraft von Elfmeterschütze Gyan und auch nicht die leise Umstellung nach der Einwechslung von Appiah. Der setzte zwar genau null Akzente, war aber scheinbar als Aufrüttelungs-Symbol wichtig. Dazu tat der Prince ein wenig mehr nach vorne, was zu einem de facto 4-1-4-1 seines Teams führte.

Entscheidend war die Überzahl, was den Willen nach vorne etwas zu tun betrifft.
Und weil im Gegensatz zum ersten Spiel des Tages, bei dem Algerien diesen Willen (auch in Unterzahl!) hatte, aber nichts finalisieren konnte, war Ghana glücklicher; was angesichts zweier Stangenkopfbälle von Gyan fast ironisch anmutet.

Serbien hätte mehr können.
Das schlafmützige Konzept auf Remis zu spielen und im Konter vielleicht noch auf Sieg zu zocken, war unangebracht. Wenn sich Ghana der technisch-taktischen Macht, die Serbien durchaus darstellen kann, stellen hätte müssen, wer weiß...

Ghana hat sich, und das war nach der neuerlichen Kader-Durchmischung nach dem Afrika-Cup nicht unbedingt zu erwarten, konsolidiert. Mensah ist wieder fit, auch wenn Vorsah hinten die meiste Arbeit macht, Annan lenkt die Zentrale, Tagoe ist ebenso spielfreudig wie Ayew und Asamoah/Gyan vorne waren die Besten.

Zurück zur Zuschreibungs-Sache...

Natürlich braucht es eine gehörige Portion an Turnier- und Weltklasseerfahrung um in einem WM-Spiel zu bestehen, und natürlich haben die Ghana und Serbien, die beide als Mittelmächte durchgehen, in erheblich größerem Maß als Algerien und Slowenien, die neu bzw. seltenere Gäste auf den großen Bühnen der Welt sind.

Genau deshalb aber braucht es den diffenzierten Blick - die Drüberstreifer-Mentalität, die "San eh schwoch!"-Behauptungen sind nur Ausreden, die vermelden, wie sehr man sich um die Beschäftigung mit sich selbst drücken will.

Denn alle österreichischen Fußball-Beobachter sind gut beraten, sich eben nicht mit Ghana oder Serbien, Teams, deren Weltklasse-Spieler bei Weltklasse-Teams in Weltklasse-Ligen agieren, zu vergleichen, sondern sich an der dritten Stufe, eben Slowenien oder Algerien zu orientieren. Deren Teams sind personell auch besser besetzt als das heimische (und haben sich beide auch zurecht qualifiziert).
Wer sich - aus purer Angst einen Spiegel vorgehalten zu kriegen - damit nicht oder nur in peinlicher, stereotyper Oberflächlichkeit beschäftigen will, trägt zum Stillstand und zur Rückwärts-Entwicklung bei.

Klar, wer beim WM-Schauen den Simpel-Blick anlegt, der wird mit den "kleinen Spielen" nichts anfangen können.
Aber, mit Verlaub, für den Einfach-Blicker, der leicht nachvollziehbares Geblöke happengerecht verpackt bekommen will, verfasse ich diese Einträge hier auch nicht. Sondern für diejenigen, die die Relationen herstellen können: zwischen heimischer Kost und kleinem Spiel, ebenso wie zwischen kleinem und großem Spiel.

Denn nur das Erkennen der Unterschiede, aber auch das Erkennen der Gemeinsamkeiten macht uns besser. Und nur wenn wir, die Fans und Freunde des Sports besser werden, wird auch sein Niveau steigen.