Erstellt am: 13. 6. 2010 - 15:57 Uhr
Gebrüder Stitch
Der Laden in der Wiener Gumpendorfer Straße wirkt von außen wie eine Mischung aus besetztem Haus, einem Schaufenster bei Diesel und mit viel Textilem behängte Wäscheleinen in den schmalen Gassen von Rom. Zwei Schritte hinein und schon trete ich in den kleinen Kreis von Menschen, denen Bruder Michael gerade die unterschiedlichen Denim-Stärken zeigt. Die Entscheidung, ob ich zuerst Michaels Ausführungen folgen oder den liebevoll eingerichteten "Beta-Store" betrachten soll, fällt schwer.

Robert Glashüttner
Jeans, und nur Jeans
"In sechs Monaten vom Marketing-Fuzzi zum Jeans-Maßschneider" lautet der Claim der beiden spätberufenen Mode-Handwerker. Das Logo des Labels besteht aus zwei gezeichneten Köpfen der Gründer, daneben steht bunt und handgeschrieben der Firmenname. Starke visuelle Akzente, ein klares Geschäftskonzept und eine sympathische Gründerlegende: Die Gebrüder Stitch wissen aus ihrer vorigen Profession zweifelsfrei, wie man erfolgreich eine Marke etabliert - und sei die Zielgruppe noch so indie. Dank des strikten Fokus auf Jeans ("Ich kann kein T-Shirt nähen"), Bildungsreisen nach Italien und China und dem günstigen Erwerb von Altmöbeln und 1-Euro-Wäschetrocknern auf eBay, war das alles so schnell möglich.

Robert Glashüttner
Entstehungsgeschichte
Der weitere Verlauf der Führung durch den Laden ist eine Schritt für Schritt-Beschreibung, wie eine Jeans entsteht: Michael, Moriz und ihr junger Lehrmeister Walter zeigen den Weg zur handgefertigten Maß-Jeans. Die Tour "Denim - behind the scenes" zeigt Geschichte und Produktionsprozesse der Jeans im Schnelldurchlauf und gestaltet sich angenehm entspannt und lehrreich.

Robert Glashüttner
Wir lernen, dass starker japanese raw denim nie gewaschen wird, der stonewashed-Effekt durch Bimssteinkugeln - bekannt von Zimmerpflanzen - erzeugt wird und die richtige Verkeilung der Jeansnähte gar keine große Zauberei ist - die richtigen Werkzeuge vorausgesetzt. Denn mit den Industrienähmaschinen, die die Herren in der Auslage stehen haben, geht das Arbeiten mit dickem Denim wesentlich leichter von der Hand als mit Hobbygeräten.
Obwohl die Idee der Jeans-Schneiderei nahe liegt, hat es bisher in dieser Form noch niemand umgesetzt. Die verbreiteten Produktionsbedingungen der Industrie, wo in Bangladesh, Indien oder China schlecht bezahlte Arbeitskräfte im Akkord stupide Tätigkeiten wie das Herbeiführen identer Abreibungen im Kniebereich von späteren Markenhosen vollziehen, stimmen noch nachdenklicher, wenn man sie selbst gesehen hat. Auch bei in Italien hergestellten Jeans würden in jenen Bereichen einer Fabrik, wo toxische Substanzen zum Einsatz kommen, etwa nur Taiwanesen arbeiten. "Irgendwann will man eine so produzierte Jeans dann nicht mehr kaufen." meint Moriz, während er mit der Aufblasmaschine die Kunst der korrekten Abwetzung vorführt.

Robert Glashüttner
Nach der Führung wird die Auslage der Gebrüder zum kleinen Podium. Im Rahmen des 10festival wird zunächst zu einer Lesung von Kulturwissenschafter Wolfgang Pauser geladen - denim studies quasi. Danach folgt ein Panel zum Thema "Individualisierung der Mode", bei dem unter anderem eine Herrenschneiderin auf eine Kunstsoziologin trifft. Es taucht die interessante Frage nach der Grenze zwischen textilem Handwerk und Modedesign auf. Sie sehe sich vor allem als Dienstleisterin, sagt Johanna Kastner. Stilistische Beratung ist okay, aber wenn der Kunde die Hochwasserhose trotzdem möchte, geht sein Wunsch natürlich ebenso in Erfüllung. Die ehemaligen Marketing-Fuzzis schließen sich dieser Ideologie an.

Robert Glashüttner
Stitching Sessions
Die Zeit bei den Gebrüdern Stich ist ein wohltuend bodenständiger und gleichzeitig stilsicherer Modenachmittag geworden. Abseits von "Sehen und gesehen werden" mit Prosecco in der Hand, gab es diesmal gut gekühltes Mineralwasser und Buttons für alle. Damit der Weg zu eigenen textilen Experimenten geebnet bleibt, lädt die Muse der Gebrüder, Walter Lunzer, bis Mitte Juli zu eigenen "Stichting Sessions" in den Beta-Store. Der Laden heißt übrigens so, weil die Herren Ende Juli an einen neuen Ort umziehen müssen. Hoffentlich legen sie dann nicht wieder eine berufliche Kehrtwende hin und bleiben als frischgebackene Jeans-Schneider weiterhin bei ihrem Denim.