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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

12. 6. 2010 - 16:54

WM-Journal '10-14.

Holla, die argentinische Waldfee! Was für ein Auftakt! Und wie interessant sie dann nachlässt!

Seit 1. Juni erscheint dieses WM-Journal zum Turnier in Südafrika - mit einer Ausgabe zu jedem Spiel.

Hier auch in der formschönen Übersicht.

Das WM-Journal gibt es auch als Podcast. Heute erst verspätet, sorry dafür!

Die Fakten zum Spiel Argentinien - Nigeria 1:0.

Alle FM4-Stories zur WM, alle Rundherum-Geschichten aus Südafrika, wie etwa Johnny Bliss' wunderbare Vorort-Reportage.

Offizielles: die FIFA-Seite und die WM-Spezial-Site der Sport-Kollegen.

Das schönste Public Viewing: das FM4 WM Quartier im Wiener WUK.

Wie man mit nur sechs Minuten inszenatorischen Wahnsinns einen Gegner so fertigmachen kann, dass dem danach einfach nichts mehr aufgehen kann, das hat Argentina '10 heute in Johannesburg eindrucksvoll vorgeführt. Das hatte mit einem Messi in Spiellaune zu tun, aber auch mit einer gewagten Aufstellung, einer offensiveren Variante als erwartet. Und somit auch mit dem was der kleine Weißgrau-Bart und sein Stab sich ausgedacht haben

Dabei handelt es sich nicht, wie uns Previews und Kommentatoren allerorten weismachen wollen, um eine Dreier-Abwehr mit verstärktem Mittelfeld und Dreier-Sturm, sondern um eine hochkomplexe und fluide Spielanordnung, reif für die Taktik-Bücher dieser Welt. Nicht neu, aber exzellent auf die Bedürfnisse und das Persoanl abgestimmt.

Das argentinische System:

Maradona/Bilardo/Batista spielen mit DeMichelis und Samuel in der Innenverteidigung und mit einem echten Links-verteidiger, Heinze. Der Rechtsverteidiger Jonas Gutierrez von Newcastle ist eigentlich Mittelfeldspieler und hat insofern eine Doppelrolle: bei Ballbesitz besetzt er die rechte Offensivseite - so wie (der in der ersten Halbzeit allerdings unsichtbare) Di Maria die linke.

Im Mittelfeld spielen drei Könner zentral in drei Schichten aufgefächert voreinander. Mascherano deckt vor der Abwehr alles ab, Veron übernimmt, überblickt, mischt sich überall ein und hält Messi den Rücken frei, der im zentralen Offensiv-Bereich völlige Freiheit hat.
Vor ihm sind Tevez und Higuain die dauerrochierden Spitzen.

Das ist eine Spielanlage, die ungeheure Intelligenz, Konzentration und strategisches Können verlangt.
Ihr Vorteil überwiegt aber: Da statt wie sonst Gutierrez im rechten Mittelfeld vor einem echten Rechtsverteidiger (wie sonst Otamendi) operiert hat Argentinien Platz für eine zweite echte Spitze frei und kann Messi wildern lassen, ohne ihn einer Seite zuzuordnen (sonst kommt er ja im Nationalteam wie bei Barca eher über rechts). So ist der Superstar dann nämlich noch schwerer auszurechnen.

Argentinien spielt also in der Defensive ein verschliffenes 4-4-2, das im Angriffs-Fall zu einem 3-2-3-2 wird.
Nachteil so einer Formation: man hat nur je einen Mann für die Flügel. Zusatz-Vorteil: die Vorstöße durch die Mitte (Messi, Veron) zermürben einen Gegner wie Dauerfeuer auf die Bauchmuskeln eines Boxers.

Die nigerianischen Troubles:

Auch wieder Off Topic: Wer zu Mittelstürmer Yakubu im Vorbericht "Aiyegbeni" sagt, der gibt damit zu ihn noch nie live spielen gesehen zu haben. Ärgerlich. Wie alle Fehler, die im Vorfeld, in den Aufstellungs-Previews allzu oft vorkommen.

Der Gegner aus Nigeria hat die erwarteten Probleme: Eein Mittelfeld der Mittelmäßigkeit, eine am Rand der Überforderung befindliche Abwehr und ein nicht so recht in die Gänge kommender Dreiersturm, aus dem einzig Obasi ein wenig heraussticht. Gut, gegen diesen argentinischen Ansturm hätte jede Mannschaft der Welt alt ausgesehen - aber die aktuelle Krise bei den Super-Eagles macht sie eben noch anfälliger.

John Obi Mikel hätte wohl hin und wieder Stabilität und Ruhe reingebracht - aber das fast schon an die Griechen erinnernde Dreier-Mittelfeld (Haruna-Etuhu hinten und Kaita ein paar Meter davor) hisste schon nach ein paar Minute die weiße Fahne.
Das hat Lagerbäck gemerkt und im Verlauf der Halbzeit dann auf ein total schwedisches 4-4-2 umgestellt, mit Kaita rechts und Obasi links. Was den eigenen Druck nicht erhöht, aber den gegnerischen ein bissl gemildert hat.

Trotzdem: bis auf den heute echt fantastischen Vincent Enyeama im Tor waren sie wie gelähmt. Und, für mich überraschend: Joseph Yobo, der alternde Kapitän, steht noch.

So ist aber schon bei Halbzeit klar, wer der klare Favorit ist. Und es scheint auch jetzt schon klar, dass sich Nigeria, die von allen afrikanischen Teams noch die beste Ausgangs-Position haben, sehr steigern wird müssen. Nicht unbedingt heute - das ist wohl verloren; aber in den beiden nächsten Spielen.

In der zweiten Halbzeit

ändert sich nichts Wesentliches. Messi spielt eine Chance nach der anderen heraus, der bereits weichgespielte Gegner hat keine Möglichkeit jemals ins Spiel zurückzufinden.

Interessanter als das Beklagen von vergebenen Torchancen (das kann natürlich fatal enden, wird aber nicht in jedem Spiel so sein) sind die taktischen Umstellungen, die Maradona und Co. mit ihren Einwechslungen vorgenommen haben. Denn: Wer von außen auf ein so komplexes Gebilde einwirkt, muss das in gebotener Vorsicht tun.
In der 74. Minute kam Maxi Rodriguez für Co-Regisseur Veron und aus dem verschliffenen System wurde ein klares 4-1-3-2. Gutierrez wird noch defensiver, rechts hinten, Maxi geht auf die rechte Flanke, und die beiden Spitzen vor Messi weichen nicht mehr so viel auf die Seiten aus. Da ersetzt dann Milito Higuain, dem nicht so viel gelungen ist.
In der 85. Minute wechselt Maradona dann noch einmal innerhalb des Systems: Burdisso kommt als Rechts-Verteidiger und Gutierrez geht statt Di Maria auf die linke Flanke - spielt also die dritte Position innerhalb eines Spiels.

Man probiert also, und zwar völlig gefahrlos. Im Gegensatz zur Torquote war das meisterlich.

Schwedische Revolte

Nigeria blieb in der zweiten Halbzeit bei seinem schwedischen 4-4-2, Lagerbäck wollte den Rückstand gering halten und hoffte auf eine Zufalls-Chance. Warum Odemwingie, der deutlich mehr draufhatte, erst von der Bank kommen musste, warum Martins erst so spät für den unsichtbaren Obinna eingewechselt wurde? Keine Ahnung.
Interessant: Auch hier spielte einer auf drei Positionen. Sani Kaita begann im zentralen Mittelfeld, spielte dann den Großteil der Partie als offensiver rechter im Mittelfeld und musste dann, nach der Verletzung von Taiwo, als linker Verteidiger aushelfen.

Lagerbäck nützt also die akute Schwäche der Mannschaft, um sein altes System zu implementieren, eine Strategie, die dem nigerianischen Spiel, das mit drei Spitzen attackieren will, total zuwiderläuft.
Fragt sich, ob es das im zweiten Spiel auch noch darf; wer sich also im ewigen nigerianischen Machtpoker zwischen Spielern, Coach und Funktionären diesmal durchsetzt. Die Aufstellung im nächsten Spiel wird es weisen.

Anmerkung für Pseudo-Politisch-Korrekte, die den psychologischen Begriff der Zerfleischung nur mit kruden Assoziationen lesen können: die an sich schon ungesunde Selbstzerfleischung nach Niederlagen zieht in Nigeria aufgrund der dortigen Verbands-, Polit- und Sport-Machtstrukturen eine eben schon traditionelle (also im schlechten Sinn folkloristische) Spirale der irrationalen Konsequenzen nach sich.

Gruppe B, Runde 1, Fazit:

Argentinien sieht nach dem ersten Spiel schon aus wie der sichere Weltmeister. Wie schon 2006, wie schon 2002... Achtung, Waldfeen-Freunde!
Südkorea hat uns ein wenig verzaubert - schnelles Ausschwärmen, saubere Technik.
Nigeria wird sich in der dort leider üblichen Folklore der Zerfleischung üben.
Und: die vierte Mannschaft in dieser Gruppe hab ich schon wieder vergessen...