Erstellt am: 12. 6. 2010 - 06:00 Uhr
"Selection is not election"
Eine Studentin auf den Straßen Teherans - angeschossen, voller Blut - stirbt. Vor mir, am Bildschirm. Das ist der Unterschied.
Nicht, dass bei politischen Zusammenstößen Menschen ums Leben kommen. Sondern dass die Welt es live über Blogs, Twitter, Social Networks miterlebt. Noch nie hatte es ein Regime so schwer, Fakten zu generieren bzw. zu manipulieren, wie bei der "Grünen Revolution" im Juni 2009. Und trotzdem hat sich die Lage auch ein Jahr später kaum verbessert.
Die "gesündeste und freieste" Wahl weltweit
(Ahmadinedschad, Fernsehansprache 7. Juli 2009)
Ein kurzer Abriss der Ereignisse zeigt die Geschwindigkeit, mit der sich der Iran vor einem Jahr in kriegsähnliche Zustände manövrierte:
CC Milad Avazbeigi
Am 12. Juni 2009 stellt sich Amtsinhaber Mahmud Ahmadinedschad erneut der Wahl zum iranischen Präsidenten. 85% der IranerInnen gehen zu den Urnen, und bereits am Tag danach erklärt sich Ahmadinedschad mit einer überwältigenden Mehrheit von 62% zum Sieger.
40 Millionen Stimmzettel, ausgezählt an nur einem Tag?
Gegenkandidat Mir Hossein Mussawi spricht von Wahlfälschung, doch der oberste religiöse Führer Ajatollah Ali Khamenei ruft auf, Ahmadinedschads Wahlsieg anzuerkennen. Halbherzig werden die Wahlen vom Wächterrat überprüft; gleichzeitig blockiert und filtert die Regierung Internetseiten und SMS.
Trotz der Zensur formiert sich die Opposition. Hunderttausende gehen auf die Straße - und werden mit brutalsten Mitteln vom Regime bekämpft. Polizei und Miliz feuern in Menschenmassen, eine Verhaftungswelle zieht sich durch die Stadt, aus den Gefängnissen hört man von Misshandlungen und Folter. Ende Juni sprechen oppositionelle Quellen bereits von 40 toten DemonstrantInnen; die Zahl erhöht sich im Laufe des Jahres auf fast 70.
Unter ihnen auch die Studentin Neda Agha-Sultan.Von Milizen angeschossen, stirbt sie bei einer Demonstration. Das Video geht um die Welt, sie wird zur Ikone der Demonstrationsbewegung. "Es ist nicht abwegig anzunehmen", schreibt die Autorin und Regisseurin Fathiyeh Naghibzadeh, "dass es gerade diese Bilder waren, die Tausende von Menschen und zeitweilig sogar westliche Politiker zur Solidarisierung mit dem Aufstand gegen das iranische Regime bewegt haben. 'Neda' heißt auf deutsch 'Aufruf' oder 'Appell'. Ihr Tod wurde zu einem Appell an die Welt."
"Mögen die Mullahs auch keine Autobahnen und keine Gaskammern bauen - für das aufgeklärte, historisch alerte Europa müsste es reichen, wie sie die Baha'i behandeln und dass sie nach der Atombombe streben."
(Henryk M. Broder)
Ein Appell, der mancherorts einfach verhallte, wie beispielsweise Henryk M. Broder kritisiert: "Die europäischen Regierungen [...] sehen der Entwicklung im Iran mit der Gelassenheit von Horror-Fans zu, die sich beim Zuschauen ein wenig gruseln, aber hoffen, die Geschichte werde schon irgendwie gut enden."
Broder hat das Vorwort zur Essay-Sammlung Verratene Freiheit - Der Aufstand im Iran und die Antwort des Westens geschrieben. Ein Buch, das die Herausgeber als "parteiische Intervention" bezeichnen, nicht objektiv, kein wissenschaflticher Anspruch, sondern "ganz einseitig und deshalb auch kompromisslos". Es ist ein wütendes Buch, das die feige Doppelmoral westlicher Regierungen anprangert und den Solidaritätsbekundungen der Linken ordentlich auf die Zehen steigt.
Verbrecher Verlag
"Verratene Freiheit - Der Aufstand im Iran und die Antwort des Westens"
erschienen im Verbrecher Verlag, 2010
Neben einer ausführlichen Chronik der Ereignisse finden sich u.a. Brandreden gegen den größenwahnsinnigen Atomkriegsherren Ahmadinedschad, eine Abhandlung über den Frauenkörper als Kampffeld jeder Revolution, ein Kratzen an Deutschlands subtilem Antisemitismus in seinen Handelsbeziehungen oder eine Betrachtung der Möglichkeitsfelder, die sich für amerikanische Präsidenten im Nahen Osten auftun.
Mit-Herausgeber Thomas von der Osten-Sacken ist Geschäftsführer der im Nahen Osten tätigen Hilfsorganisation WADI eV. Das Buch sei er "den mutigen Menschen im Iran schuldig", wortgewandt kämpft er für einen neuen Säkularismus im Iran und gegen den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts."
Ahmadinedschad - trotz zahlreicher weiterer Demonstrationen noch immer unbeschadet im Amt - schaffe es nämlich, eine gefährliche neue Alternative zu etablieren, so die drei Herausgeber Thomas von der Osten-Sacken, Oliver M. Piecha und Alex Feuerherdt in ihrem Essay. Die Religionszugehörigkeit spiele dabei nur noch eine untergeordnetet Rolle. Was zählt, sei die Feindstellung gegen die USA, gegen den Westen, und natürlich gegen den "internationalen Zionismus". Und Ahmadinedschad träfe sich dabei beispielsweise problemlos mit Venezuelas Staatschef Hugo Chavez. Der taufte diese Stoßrichtung "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" und fährt damit prächtig, wie die Herausgeber des Buchs kritisieren:
"Nun konnten Islamisten und Sandinisten, Attac-Aktivisten und französische Bauern, die Präsidenten Weißrusslands und Syriens sowie Hunderte anderer heterogener Elemente sich unter diesem neuen Begriff von 'Sozialismus' zusammenfinden. Dieses Etikett war nach dem Ende der Sowjetunion und der historischen internationalen Arbeiterbewegung frei verfügbar. Es war ein Etikett mit erloschenem Markenschutz, aber es repräsentierte doch noch einen gewissen Marktwert."
Zig Menschen haben bei den Aufständen ihr Leben gelassen - und der Westen greife nicht ein, weil er in seinem Che-Guevara-Shirt dastehe und sich so sehr nach einem Gegenmodell sehne, nach Authentizität und Revolte. Und wütend schreiben die drei Herausgeber weiter:
"Wer in Europa dem Irrsinn nicht offen seine Unterstützung gewährt, duldet ihn doch, als Ausdruck von 'Kultur' oder der Wut des unterdrückten postkolonialen Subjekts."
CC Daniella Zalcman
Diese Analyse mag polemisch und überzeichnet klingen. Verfolgt man allerdings das aktuelle Weltgeschehen, dann kommt es zu Schulterschlüssen und Hand Shakes, die die Befürchtungen der drei teilweise untermauern. Nachdem beispielsweise monatelang über Irans Atomprogramm diskutiert wurde (einer der wenigen Punkte, die nach der Wahl und den Protesten weiterhin im Fokus des internationalen Interesses lagen), beschloss der UN-Sicherheitsrat am 10. Juni 2010 die (bisher schärfsten) Sanktionen gegen Ahmadinedschads Regierung. Sofort kritisierte Hugo Chavez die Entscheidung und forderte stattdessen Sanktionen gegen Israel. Auch Brasiliens Lula da Silva bezeichnete die Sanktionen als "Fehler".
Und Mahmud Ahmadinedschad? Der reagierte mit der gleichen eitlen Ignoranz, die er schon bei der "Grünen Revolution" an den Tag legte:
"Von links und rechts verabschieden sie Resolutionen, aber für uns sind sie wie lästige Fliegen, wie ein gebrauchtes Taschentuch."
Die geplanten Demonstrationen der Opposition zum Jahrestag der umstrittenen Präsidentenwahl heute (12. Juni 2010) wurden übrigens aus Sicherheitsgründen abgesagt. Die Behörden würden für den Marsch keine Genehmigung erteilen, heißt es in einer Internet-Erklärung.