Erstellt am: 11. 6. 2010 - 12:01 Uhr
Blumentopf: "Wir"
Blumentopf
Eigentlich waren mir Blumentopf immer eine Spur zu brav. Ja eh, live haben die Fünf bei jeder Show Stimmung gemacht. Ja schon, sie hatten auch kritische Texte gegen Krieg und so. Ja sicher, mehrere Platten der Band stehen in meinem Regal. Nur: auf dem Plattenteller sind sie selten gelandet. Zu viel Gemütlichkeit, zu wenig Ecken und Kanten für meinen Geschmack - so dachte ich über die ersten vier Alben, weshalb ich vom fünften Werk "Musikmaschine" aus dem Jahr 2006 zuerst nur wenig mitbekam. Dabei veränderten sich, wie ich später bemerken sollte, gerade in dieser Periode die Sounds der Band. Umweltgeräusche wurden gesamplet, mehr elektronische Instrumente hielten Einzug, die Musiker lernten, Gitarre und Bass zu spielen. Das Tempo wurde gesteigert. Die altbackene Formel des New-York- Beats der Neunziger wich einer neuen Experimentierfreude. Jetzt veröffentlicht Blumentopf das sechste Album "Wir". In meinem Regal reiht es sich nicht bei den wenig gehörten Platten ein, sondern neben meinen gesammelten Nerdcore-Compilations und der Fernsehserie The Big Bang Theory.
The Big Bang Theory?
In der großartigen Show geht es um vier Wissenschafter, die sich neben Quantenphysik und Raketenforschung vorwiegend mit Star Trek, Super Mario oder Halo beschäftigen. Hauptfigur Sheldon Cooper weist Merkmale des Asperger Syndroms auf und sein IQ liegt über 200. Die Serie ist wohl nur für Menschen verständlich, die Science Fiction lieben, "Spektrum der Wissenschaft" lesen und sich mit Netzkultur, Videospielen und Superhelden-Comics auskennen.
Enter Da Blumentopf. Das Album "Wir" geht los mit "Systemfuck": Die MCs vergleichen ihre Gehirne mit dem zerschossenen Betriebssystem eines Computers: "Ich stürze ständig ab". Hohes Tempo und eine E-Gitarre, brachial aber nicht unfunky. Der Text ist ein Sammelsurium aus IT-Metaphern für die Kaputtheit: "Ich lehne an der Bar und leere Biergläser. Doch das Lächeln, das ihr seht, ist nur mein Screensaver." Dass das Abhängen in Underground-Clubs ohnehin auch eine Sache für Nerds ist, wird mit solchen Zeilen abgehandelt: "Ich bin der Gästelistentrojaner, nenn mich +1".
"Nerds" heißt dann auch ein weiterer Track, der das Prinzip von "Systemfuck" auf die Spitze treibt: "Es ist falsch, wir haben nicht generell Panik vor Menschen, höchstens ein paar Defizite in unseren Sozialkompetenzen". Womit wir wieder bei den Science-Nerds von The Big Bang Theory wären. Die MCs erzählen vom nächtelangen Herumhängen in monitorbeleuchteten Zimmern, wo die Beat-Bastelei viel weniger glamourös ist, als das Livespielen auf Festivalbühnen. Es geht um die Musik, und deren Produktion funktioniert eben am besten, wenn man ein bisschen was von wahnsinnigen Wissenschaftern hat. "Wir lassen die Augen nicht lasern, wir brauchen die dicken Gläser, die gehören bei uns zum Look."
Der Wecker läutet zu Beginn von "Wach auf", einem Protestsong gegen das Frühaufstehen. Sein grandioser Refrain ist demnächst vielleicht auf vielen Handys als Weckruf zu hören. Auch hier wieder hohes Tempo und knarzige Gitarrensounds, die rocken, ohne sich an Rock anzubiedern.
Wir
EMI
Merkwürdigerweise ist es ausgerechnet der Titeltrack des Albums, der aus der Reihe fällt. "Wir" ist langsamer als die übrigen Tracks, der Beat stampft beinahe trotzig, gerappt wird im Chor, die Gitarren sind dominanter. Erst beim zweiten Anhören fiel mir auf, dass "Wir" so funktioniert wie Tougher Than Leather von RUN-DMC, oder auch dieses Beastie-Boys-Album mit dem kaputten Flugzeug am Cover, ihr wisst schon. Retromusik ist scheiße, wenn sie alt klingt, aber in diese Falle tappen Blumentopf nicht. Der Track "Wir" ist zwar eine Hommage an die Achtziger, aber kein Abziehbild - deshalb funktioniert er im Jahr 2010.
Gegen Ende des Albums begeistert mich "Supereinfachschwierig" noch einmal mit bösem Elektrobass, dezent angezerrten Gitarrenriffs und einem Beat, der trotz seiner brachialen Geradlinigkeit nicht auf den Groove vergisst. Inhaltlich verwirren uns die Töpfe mit der Reflexion über Selbstzweifel und Unsicherheit: "Uns geht es super, uns geht es superschlecht. Alles ist einfach, einfach zu komplex."
Blumentopf live
Blumentopf on3 Session vom 5. Juni 2010.