Erstellt am: 11. 6. 2010 - 11:00 Uhr
We believe!
Als ich vor zwei Wochen auf eine zehntägige Spritztour nach Österreich fuhr, hatte ich noch den Eindruck, dass diese, meine vierte in England erlebte Fußball-WM sich unauffälliger denn je ankündigte.
Dass die Hysterie sich in meinem Bekanntenkreis in Grenzen hält, ist vielleicht kein brauchbares statistisches Sample, aber wenn sogar der Taxifahrer, der einen am Flughafen abholt, nur mildes Interesse am englischen Vorankommen (nicht am Fußball, wohlgemerkt!) demonstriert, dann hat das schon was über die gemäßigten Erwartungen zu sagen.
Vor allem, kommt mir vor, weil diese Fußballergeneration - vielleicht mit Ausnahme des unheilbar volkstümlichen Rooney - sich mit ihrem von Milliardenschulden der Vereine getragenen, abgehobenen Zuckerpüppchen-Lebensstil von ihrem Publikum entfremdet hat. Aber solche schwierigen Beziehungen können sich mit ein paar Toren und einer Prise nationaler Hysterie bekanntlich schnell vertiefen.
Und neulich in der Underground waren erste Zeichen davon unübersehbar:

Robert Rotifer
Ich weiß ja nicht, ob das ein Nagellack-Kunstwerk ist, aber im Zeitschriften- und Gemischtwarenhandel meines Vertrauens kann man diese Designer-Kunst-Nägel fertig kaufen.
Nebst den ballförmigen Ohrrigen und dem England-Wappen-Wunderbaum fürs Auto.

Robert Rotifer

Robert Rotifer
Letzterer baumelt dann beim Unfall mit ungeklärter Ursache um zwei in der Früh gleich neben den unverzichtbaren fluffigen Würfeln.
Und für die Jugend, die noch nicht hochkant über den Kreisverkehr segeln darf, gibt's das mit amtlichem Hologramm gekennzeichnete offizielle Abziehbild-Tattoo. Zum Wegbürsten, falls Rooney sich durch peinliches Benehmen über Nacht zur nationalen Schande verwandeln sollte, oder falls Lampard wieder einen Elfer versemmelt.

Robert Rotifer

Robert Rotifer
In welchem Fall in Südafrika aufhältige AnhängerInnen stilecht wieder nach Hause fahren können. Mit England-Koffer, gesichtet gestern nachmittag bei Sports Direct, gleich neben dem Display für das Peperami Fanimal, eine überdimensionierte, ziemlich zweideutig aussehende, Fußballparolen brüllende Wurst.
"Bash me - and I'll let 'em have it" - "Prügel mich und ich zeig's ihnen". Sehr sympathisch.
In Aktion ist die Wurst hier zu betrachten. Eine Zier für jeden englischen Haushalt.

Robert Rotifer
A propos phallisch: Für Frauen gibt es bei Sports Direct ein T-Shirt mit der Aufschrift "England Team Groupie".
Jetzt schon stark verbilligt, weil möglicherweise doch nicht so beliebt wie erhofft. Man fragt sich warum.
Der missratene Cartoon-Capello nebenan ist aber immer noch billiger.

Robert Rotifer
Gleich daneben stellt die Reizwäschen- und Sexspielzeugkette Ann Summers ihre Strategie zur Schau, den Mann vom Fernseher loszueisen (harharhar, an mir ist wahrlich ein passabler Lifestyle-TV-Show-Beitragmacher verloren gegangen, jaja die vergebenen Chancen im Leben).

Robert Rotifer

Robert Rotifer
Für die komplette Siebziger-Schönheits-Königinnen-Retro-Experience braucht's aber noch die authentische England-Scherpe.
Das männliche Äquivalent dazu ist die weiße Krawatte mit rotem Georgs-Kreuz, die sie ihm zum Sonderdiskont von 75% im Auflassungs-Abverkauf der örtlichen Tie-Rack-Filiale kauft.
Zusammen mit den England-Socken natürlich. "Welche finden Sie am schönsten?", fragt sie die Verkäuferin.
Die schüttelt nur den Kopf und lächelt, verständlicherweise.

Robert Rotifer
Aber ehe wir Mitleid mit den Empfängern dieser Gaben kriegen, sollten wir an die denken, die sich gar nicht wehren können. Die Babies, von null bis drei Monaten zum Beispiel.

Robert Rotifer
Ja, die armen Babies.
Das schönste Merchandise gibt's aber immer noch im Supermarkt. Ob beim traurigen Diskonter...

Robert Rotifer
...oder beim "Official England Supermarket" Tesco.

Robert Rotifer
Was wiederum die Frage aufwirft:
Was macht einen Supermarkt eigentlich zum offiziellen Gemischtwaren- und Lebensmittelhändler des englischen Nationalteams? Wieso gerade Tesco, dessen aggressive Preispolitik einen wesentlichen Beitrag zur Homogenisierung von Englands Stadtzentren liefert und die beliefernden Bauern bis aufs Unterhemd auszieht (der dafür hauptverantwortliche Chef Sir Terry Leahy hat übrigens kürzlich nach 14 Jahren abgedankt und macht sich als alter Tory-Unterstützer möglicherweise schon für die politische Karriere bereit)?
Liegt es vielleicht an den Fähnchen?
Am Bier- und Cider-Sonderangebot für durstige PatriotInnen?

Robert Rotifer
An den Limited Edition-England-Nassrasierern?

Robert Rotifer
Am Fußball-förmigen Barbecue?

Robert Rotifer
Oder an der aufblasbaren Sitzgelegenheit, die aus der Lücke zwischen den gespreizten Beinen des/der darauf Thronenden hervor die mit doppeltem Ausrufezeichen auch nicht glaubwürdigere Durchhalteparole verkündet: "We believe!!"

Robert Rotifer
Soll jedenfalls keiner sagen, dass ich für meine Geschichten hier nicht recherchiere, also bin ich zum direkten Vergleich noch zum Konkurrenten Sainsbury's rübergegangen.

Robert Rotifer
Dort gab es immerhin Lunchboxes in Form von Wayne Rooneys Torso.
Und Sondereditionen der von England-Veteran Gary Lineker beworbenen Walkers Crisps.

Robert Rotifer
Englischer Roastbeef und Yorkshire Pudding-Geschmack trifft auf...

Robert Rotifer
...authentisches amerikanisches Cheeseburger-Aroma

Robert Rotifer
...brasilianisches Salsa (dachte zwar, die Marketing-Abteilung hätte hier Mist gebaut und Salsa wäre was strikt Kubanisches bzw. die gleichnamige Sauce eher was Lateinamerikanisches, aber bitte, laut Internet gibt's das auch in Brasilien)

Robert Rotifer
...oder den würzigen Pleonasmus German Bratwurst Sausage.

Robert Rotifer
Eine vollständige Kritik aller 15 erhältlichen Sorten (Italian Spaghetti Bolognese, Dutch Edam, Argentinian Flame-grilled Steak, French Garlic Baguette, Australian BBQ Kangaroo, Spanish Chicken Paella, Japanese Teriyaki Chicken etc.) findet sich übrigens hier.
Peter Crouch, die Fußballer-Identifikationsfigur der Middle Class hat sich indessen in den Dienst der wesentlich konventioneller gewürzten Pringles - Verzeihung: "Pringoooals"- gestellt.
Wieder auf der Straße angelangt, halte ich auf dem Supermarktparkplatz Ausschau nach dem in den letzten zehn bis zwölf Jahren prägendsten Merchandising-Artikel, dem Fähnchen fürs Auto, und finde bloß ein einsames Beispiel.

Robert Rotifer
Vielleicht hatte ich ja doch Recht mit meiner ursprünglichen Wahrnehmung des gebremsten Enthusiasmus.
Oder wir haben es hier mit etwas viel Strittigerem zu tun, nämlich den direkten Auswirkungen der Entscheidung der Stadtverwaltung von Canterbury, den Taxifahrern das Recht auf die Fahne zu nehmen.
Eine autoritäre Attacke auf den gesunden, patriotischen Geist, die in manch aufgeregtem Gemüt die Frage aufkommen lässt, wozu man sich vor 65 bis 70 Jahren bombardieren hat lassen müssen, wenn wir jetzt erst recht in einem totalitären System angelangt wären.
Nein, im Ernst, die reden wirklich so, siehe diese wunderbare Überschrift von der aktuellen Titelseite des Kent Messenger:

Robert Rotifer
Unten am Fluss saß dieweilen friedlich Steven Gerrard und angelte.

Robert Rotifer
"Exklusiv: Wir haben uns beim Flaggenverbot nicht wie Nazis aufgeführt. Gemeindeboss reagiert auf Ihre Kritik."
A propos Nazis: Eine andere Lokalzeitung berichtet von SchülerInnen des Community College im nahegelegenen Whitstable, die es lustig fanden, AustauschschülerInnen aus Borken (Whitstables deutscher Partnerstadt) mit Hitlergruß willkommen zu heißen.

Robert Rotifer
Dabei hat die WM doch gerade erst angefangen.