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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

10. 6. 2010 - 18:28

WM-Journal '10-10.

Drei offene Fragen vor dem Start.

Seit 1. Juni erscheint dieses WM-Journal zum Turnier in Südafrika - in den ersten Tagen mit einer Vorstellung der einzelnen Vorrunden-Gruppen.

Das WM-Journal gibt es auch als Podcast.

FM4 WM Quartier im Wiener WUK

WM 2010: Die Übersicht

Hier der Link zur offiziellen Kader-Liste der FIFA, das die WM-Spezial-Site der Sport-Kollegen, die hier eine finale Preview anbieten. Und dann wäre da auch noch der WM-Auftritt des Guardian.

Die Gruppen sind vorgestellt, die Kader stehen, die Stars ausgemacht, die Vorhersagen-Kultur erreicht groteske Ausmaße: so ist das, einen Tag vor WM-Start (heute abend große Mainstream-Ramba-Zamba-Party als Auftakt).

Mir geht es so wie immer: während der konzentrierten Beschäftigung mit den 32 Teams im Vorfeld wächst nicht nur das Wissen, sondern auch die Sicherheit der Einschätzung, was ein aktuelles Personal oder aktuelle Zustände bewirken könnte.
In den Previews der Gruppe A und B merkt man das - die Vergleichswerte fehlen noch, ich bewege mich etwas tapsig, vermute noch wesentlich mehr als in weiterer Folge.

Ein paar Fragen bleiben noch.
Etwa die, warum es diesmal so viele Verletzte gab, vor allem unter den echten Stars. Die verweisen aber maximal ins Feld der Verschwörungs-Theorie und das betrete ich sowieso nicht.

Drei andere, durchaus zumindest ebenso große Fragen, die sich zu untersuchen mehr lohnt, gibt's aber noch.

Frage 1: Ist den Teams aus Afrika echt nichts zuzutrauen?

Zum Vergleich: das Abschneiden der WM-Starter im Africa-Cup, der Kontinental-Meisterschaft im Jänner.

Es ist ja so, was man besonders liebt, kennt man genau, sieht man genau an. Und wenn es möglich ist die Liebe mit dem kritischen Blick zu verheiraten, dann führt das gern dazu, dass man die, die einem Nahestehenden, die über die man viel weiß, genauer und entgegen der üblichen Bürstungen betrachtet.

Ich liebe den afrikanischen Fußball, und verfolge ihn sicher genauer als etwa den südamerikanischen, manchmal auch genauer als den europäischen (vor allem was Nationalteams betrifft).
Ich halte die afrikanischen Teams bei diesem Turnier für ziemlich chancenlos, was Viertelfinal-Anforderungen betrifft. Aus jeweils guten Gründen, wie ich glaube.

Nur: seh ich das zu eng? Bin ich zu streng zu denen, die ich liebe?
Weil: wenn sich meine Einschätzung plötzlich mit dem aus den Klischee-Büchln der letzten Jahre gesogenem Larifari sogenannter Experten deckt, dann werd' ich mißtrauisch.

Denn wenn das dümmliche "De Afriganer wean des nie schoffn - vü zu vaspüt!"-Gelaber derer, die alten Rassismus hinter scheinbar wertfreier Häme verstecken Mainstream wird, dann ist Feuer am Dach.

Leider sind aktuell die großen Drei der letzten Jahre (Kamerun, Nigeria, Cote d'Ivoire) in einer Krise, die auf eine Stagnation beim Personal zurückzuführen ist. Die endlose Zulieferung von erstklassig ausgebildetem Talent ist nämlich nach einem riesenhaften Boom in den letzten Jahren aktuell auf ein Normal-Maß geschrumpft.

Die Reaktion der nationalen Verbände sind, vorsichtig gesagt, ausbaufähig. Mit den Daueraustäuschen des Coaches und der überhöhten Machtfülle mit der die Spielerstars (die bei den Vereinen teamfähig sind, sich dann im National-Trikot wie Fürsten gerieren) ausgestattet sind, ist wenig zu gewinnen.

2010 kommt zu früh.

Dazu kommen die Verletzungen der absoluten Führungsspieler von Ghana (Essien), Nigeria (Mikel) und Cote d'Ivoire (Drogba), allesamt Akteure, deren Wichtigkeit fürs Team in etwa der Ballacks für Deutschland entspricht.

Dazu kommen seltsame Turnarounds, wie sie Ghana und Algerien (nach einem jeweils guten Afrika-Cup) in den Teams vorgenommen haben.

Der größte Unsicherheits-Faktor ist das Heim-Team. Wir alle wissen, dass der Heimvorteil noch bei jeder WM Großes, teilweise Sensationelles (Beispiel Südkorea) bewirkt hat.
Ob die Bafana Bafana da, in einer recht schweren Gruppe, anschließen kann?

Die vielen Fragezeichen und Einwände bleiben, auch wenn man die Vorurteils-Behandlung, der vor allem die westafrikanischen Teams hierzulande unterzogen werden, wegblendet. Was nicht bedeutet, dass sich die Großen Drei samt Ghana und anderen nicht in den nächsten Jahren zu echten Weltmächten aufschwingen.
Das trau ich ihnen, in einer langfristigen Entwicklung (hunderte Jahre Kolonialisierungs-Geschichte sind eben nicht in 30 Jahren, und länger spielen afrikanische Team nicht ernsthaft auf der Weltbühne, aufzuholen), durchaus zu.

2010 kommt zu früh.

2010 wird die Bestätigung bringen, dass man eine WM überall, auch im "argen" Afrika ausspielen kann. Und das ist, auch im postkolonialen Diskurs, fast noch wichtiger als ein paar Vorstöße ins Viertelfinale.

Frage 2: Warum immer die Üblichen Verdächtigen?

Die Favoriten sind klar: Spanien, Brasilien, Argentinien. Dazu traut man den Deutschen immer was zu, diesmal sind auch wieder England und Holland heiße Aktien und wer Italien und Frankreich ganz außer Acht läßt, ist auch schlecht beraten.

Das sind sie, die üblichen Verdächtigen: die sechs Weltmeister nach 1965, der zweimal-Fast-Weltmeister und der aktuelle Europameister.

Wer sich heuer auf den sonst gern genommenen Außenseiter-Tipp Portugal kapriziert, wird schon schief angeschaut. Wer gar auf, ich weiß nicht, Mexico, Serbien, die USA oder Chile setzt, kriegt den Vogel gezeigt. Ja, irgendein Überraschungs-Team wird sich schon weit vormogeln, das ist immer so - aber der Titel der bleibt im Verein, der geht an die Usual Suspects.

Und warum ist das so?

Ein wenig, weil nicht nur wir Tipper und Schwätzer, sondern alle so denken, auch die Konkurrenz.

Ein Beispiel: Otmar Hitzfeld hat sich für das letzte Testspiel seiner Schweizer Italien gewünscht. Er wollte damit das erste Gruppenspiel gegen Spanien simulieren. Frage: das ist doch unsinnig, die spanische Spielanlage hat mit der italienischen rein gar ncihts zu tun, das ist eher wie Tag und Nacht. Antwort: Ja, eh. Es geht aber um das Gefühl gegen einen "Großen" zu spielen.

Warum immer die Großen?

In dieser öffentlichen Anerkennung dieser Gefühligkeit manifestiert sich die Bedeutung dieses Komplexes. Ein Großer, einer der üblichen Verdächtigen zu sein, bedeutet also eine spezielle Haltung des Gegners, einen respekts-Vorsprung, der sich in den allermeisten Fällen als Vorteil erweist.

Die Großen, die üblichen Verdächtigen bleiben also deshalb bei WM-Endrunden in finalen Bereich unter sich, weil das erwartet wird: Auch von der Konkurrenz. Und allein diese Erwartungshaltung schwächt dann das eigene Potential.

Seltsamerweise ist das bei der kontinentalen Euro weniger stark: da können auch Kleine Titel holen - in der nachbarlicher wirkenden Arena Europa herrscht weniger Ehrfurcht vor den Usual Suspects. Das gilt ja auch für die Euro-Qualifikationen - manchmal hat ein Großer in den Quali-Gruppenspielen mehr Probleme als dann im Bewerb selber.

Frage 3: Werden Lehren aus dieser WM zu ziehen sein?

Der ÖFB sagt "keine", Firlefranz Beckenbauer und Waldi Hartmann würden zustimmen.
Klar: wer nichts sehen will, wer nichts sehen kann, der wird auch nix erkennen.
Wie auch?

Wer die Scheuklappen ablegt, sich nicht ins "Hat's ja alles schon einmal geben!"-Früherwarallesbesser-Geseier der Altinternationalen (die ja nur - zurecht - neidig auf die Gegenwart sind) flüchtet, wird sich was rausholen - wie immer, wenn es einen großen Praxis-Kongress dieser Art gibt.

Die Aussage der ÖFB-Experten, die taktisch alles als ausgereizt erachten und maximal "Unorthodoxes" erwarten, ist eine Kapitulation vor jeglicher Herausforderung und auch eine Verkennung eigener Kreativität. Paul Gludovatz' Post-ÖFB-Erfindung des 3-3-3-1 etwa ist kein unorthodoxer Gag, sondern eine auf die Bedürfnisse einer speziellen Mannschaft abgestimmte Innovation. Und alles, was in eine ähnliche Denk-Richtung geht, ist alles andere als "ausgereizt" - Marcelo Bielsas Chile etwa setzt da gerade Maßstäbe.

In nicht-europäischen Kreisen wird ja über die taktische Limitiertheit der Europäer und ihre zu strikte, fade und fantasielose Verwendung der 4-4-2 oder 4-2-3-1-Systeme gespöttelt. Zurecht, wie ich finde.
Denn was ein Mourinho, ein Wenger oder ein Guardiola auf hohem, für die jeweilige Mannschaftskonstellation zusammengedachtem Niveau daraus fertigen, hat nichts mit dem zu tun, was Copycats auf mittlerem Ligen-Niveau oder die wie mit Duplo-Steinen hantierenden Nachäffer österreichischer Provonienz draus machen: Blödsinn nämlich.

Österreich wird die WM weiter zurückwerfen

Die hierzulande vorherrschende Ausreden-Kultur die Schwäche des falsch nachgebauten und von seiner Philosophie gar nicht verstandenen aktuellen Systeme auf die Originale zurückzuführen und nicht etwa auf den lächerlichen Abklatsch und die Oberflächlichkeit der eigenen Übertragung, macht Österreich zu einem Dritte-Welt-Land was Umgang mit Taktik, Systemen und Strategien betrifft.

Hierzulande wird also deshalb niemand etwas aus den Neuerungen und Innovationen dieser WM lernen können, weil die Grundlagen zu deren Verständnis und die Fähigkeit zum Wissenstransfer fehlen.

Anderswo gibt es für jeden populistischen "Bild"-"Experten" eine ganze Riege an innovativ denkenden Coaches (egal ob das Alte wie Heynckes oder Junge wie Tuchel sind), was alles wieder ausgleicht und Fußball sowohl im Bereich der Selbstvermarktung als auch der Entwicklungs-Abteilung am Leben hält.

In Österreich gibt es keine Entwicklungs-Abteilungen. Die, die dafür vorgesehen sind, hoffen auf Zufälle, die anderen denken maximal in Jahresfristen.

Weshalb auch diese WM Österreichs Fußball wieder um einiges zurückwerfen wird - denn anderswo werden Ideen aufgegriffen und integriert werden; bei uns schießt sich der Grenzeinsatz der "Experten" ab.