Erstellt am: 9. 6. 2010 - 16:27 Uhr
WM-Journal '10-9.
Seit 1. Juni erscheint dieses WM-Journal zum Turnier in Südafrika - in den ersten Tagen mit einer Vorstellung der einzelnen Vorrunden-Gruppen.
Das WM-Journal gibt es auch als Podcast.
Hier der Link zur offiziellen Kader-Liste der FIFA. Hier die kompletten Kader der Gruppe auf einen Blick.
Und das ist die Gruppe H in der Einschätzung der werten Sport-Kollegen, die seit gestern ihre WM-Spezial-Site online haben.
Immer eine Empfehlung wert: der WM-Auftritt des Guardian.
Der regierende Europameister ist erst einmal direkt danach Weltmeister geworden (Deutschland 72 und 74) und selbst umgekehrt war das nur einmal der Fall (Frankreich 98 und 00).
So gesehen stehen die Chancen für Spanien also schlecht.
Dabei sind sie sowohl die Favoriten der Experten, als auch die der Wissenschaft und natürlich auch meine. Wenn die Welt gerecht wäre, dann...
Andererseits: das Vorbereitungs-Turnier auf die WM, den Confederations-Cup hat noch nie ein Team gewonnen, das später Weltmeister wurde. Und just dort, im Halbfinale gegen die USA hat sich Spanien den einzigen echten Aussetzer in den letzten drei Jahren geleistet.
Den Confed-Cup-Knofel hat jetzt Titelträger Brasilien am Schuh kleben.
Das sind alles Pläne und Zahlenspiele, die so viel wert sind, wie die Interpretationen des Maya-Kalenders: gar nix.
Aber sie zeigen diesmal erstaunliche Einigkeit über die Kraftverhältnisse: wer Spanien nicht auf seinem Zettel hat wird angeschaut, als wäre es ein wenig rogan.
Und auch der geheimste der Geheimfavoriten (die es diesmal kaum gibt) steckt in dieser Gruppe H, der achten und letzten: Chile. Da sich die beiden Aufsteiger im Achtelfinale mit denen der Gruppe G (wohl Brasilien und Portugal) matchen werden müssen, besteht allerdings die Gefahr, dass es mit der Favoriten-Herrlichkeit dann auch wieder schnell vorbei ist.
Trotzdem...
Der Top-Favorit: Spanien
Seit dem EM-Titel von Wien vor zwei Jahren zählt die Nationalmannschaft etwas in Spanien; in Madrid und in Barcelona und Bilboa, bei Basken, Katalanen, Andalusiern, Galiziern, Asturiern. Denn die haben allesamt eigene Auswahlteams, aus historischer Verachtung für die Zentrale, für Kastilien.
Und bis vor kurzem gab es keinerlei Gefühligkeit für die Bedeutung eines erfolgreichen Nationalteams. Es genügten die Erfolge der großen Klub-Mannschaften, von Real und Barca, Atletico und Espanyol, von Seville und Valencia, La Coruna und Bilbao.
Einzelne Akteure (Basken, Katalanen und Galizier) weigerten sich überhaupt für Spanien zu spielen, wie Oleguer oder Nacho Novo. Da sich diese Streitigkeiten gerne in der Rivalität zwischen Real Madrid und dem FC Barcelona manifestiert, aus deren besten Spielern sich meist das Nationalteam zusammensetzt, war da lange nichts G'scheites zu Stande zu bringen.
Bis sich dann, nach der wieder einmal vom Ergebnis her enttäuschenden, sportlich aber anständig bestrittenen WM 06 in Deutschland etwas ergab, eher zufällig, irgendwann in der EM-Quali 2007.
Der unkonventionelle Grummler Luis Aragonés legte einen Lauf hin, einen Streak, einen Siegeszug, der sich bei der Euro fortsetzte und seitdem (auch unter Nachfolger Vicente del Bosque) nur die bereits erwähnte eine Unterbrechung durch die USA erfuhr.
Diese Serie hat mehrere Ursachen. Zum einen haben die beiden alten Coaches die davor gerne gepflogene Rücksicht auf Namen, Status oder regionale Ausgewogenheit abgestellt - so wurde etwa der langjährige Kapitän Raul ausgebootet.
Dann hat man sich auf ein System geeinigt; auf ein schnelles Kurzpass-Spiel, das Aragones Tici-Taca nannte, ein Spiel, das aus der Barcelona-Schule kommt.
Aktuell sind zwar "nur" sieben Barca-Akteure im Kader, aber auch die David Silva/Villa von Valencia, und die England-Erfahrenen Xabi/Cesc können das perfekt spielen.
Das fluide System, das mit einem 4-1-4-1 nur unzureichend erklärt ist, weil es von der Dynamik und Beweglichkeit seines Mittelfelds lebt, kommt heuer auch ohne den wichtigen Quarterback Marcos Senna aus - so gut ist die Selección besetzt, und so wenig wird del Bosque für seine überraschenden Personalentscheidungen (so fehlen auch noch Daniel Güiza oder Santi Cazorla) kritisiert.
Plus/Minus-Wertung
Hier zum Vergleich der Kader des Europameisters 08.
Hat dieses Team überhaupt Schwachstellen?
Alle Spieler sind (zwischen 22 und 32 und somit) im besten Fußballer-Alter.
Alle drei Torhüter sind spitze.
Die Abwehr um Puyol ist durch Gerard Pique sogar massiv gestärkt und noch stabiler als vor vier Jahren. Sergio Busquets soll Senna vergessen machen und vorne ist mit Pedro, Mata, Jesus Navas und Fernando Llorente mehr Qualität dazugekommen.
Das Herz ist und bleibt natürlich die kreative Mittelfeld-Achse mit Xavi, Cesc Fabregas und Iniesta, allesamt Kandidaten für den Spieler des Turniers.
Und am Abend kommt auch noch Iniesta dazu...
Problematisch ist bloß, dass sowohl Cesc als auch der Nummer-1-Striker Fernando "El Nino" Torres verletzt ins Turnier gehen.
Noch problematischer ist es, dass die Welt eben selten gerecht ist - und dass die Teams, die vor dem Turnier die logischen Favoriten sind (wir erinnern uns an Frankreich oder Argentinien 02 oder auch an Brasilien 06) selten siegreich bleiben.
Der Geheim-Favorit: Chile
Die Südamerika-Qualifikation für die WM war in weiten Teilen durch Live-Übertragungen auf Sky (damals noch Premiere) zu verfolgen. Und diese Partien waren oft wie Ausflüge auf einen seltsamen Planeten: unwirtliche Bedingungen, seltsame Rasenbeschaffenheiten und allzumeist sehr strikte taktische Konzepte und rigide Einstellungen haben diese Matches selten zu einem beseelten Vergnügen gemacht - sie waren eher wie katholische Priester anzusehen, samt Seelenqual, Selbstverleugnung und Leid, Leid, Leid.
Die einzige Ausnahme inmitten dieser Armada an Flagellanten (zu denen Maradona Argentinien sowieso, Dungas Brasilien auch allzu oft gehörte) war Chile.
"La Roja" hat ja eine der wechselvollsten Fußball-Geschichten überhaupt hinter sich, mit dem Peak der Heim-WM von 1962, der allerersten roten Karte bei einer WM überhaupt (74), dem Bann in den 90ern nach dem Rojas-Skandal, und den Erfolgen der Zamorano/Salas-Generation 98 und 00 (als Olmypia-Dritter) - dann folgten einige stille Jahre, ehe sich die aktuelle Generation wieder aufmacht, um Aufsehen zu erregen.
Das hat viel mit Trainer Marcelo Bielsa zu tun, dem Argentinier, den sie El Loco nennen.
Bielsa war Coach der vorhin erwähnten Argentinier 2002 und gewann 04 sowohl die Copa America als auch Olympia, ehe dann Pekerman übernahm.
Bielsa ist ein Irrer und ein Innovator, das beschreibt Supercitys Mahdi in seinem Blog ganz wunderbar. Und weil er da schon im Oktober des Vorjahres Chile adoptiert hat und auch taktisch exzellent erklärt, kann/mag ich dem kaum was hinzufügen. Vielleicht noch die aktuelle taktische Analyse von Zonalmarking die den Titel "Das taktisch aufregendste Team" trägt, was ja auch schon eine Menge sagt.
Plus/Minus-Wertung
Das mag so klingen wie Gludovatz' 3-3-3-1-Innovation bei Ried, ist aber ganz anders angelegt, vor allem was den Verzicht auf ein klassisches Flügelspiel betrifft.
Chile spielt ein vogelwildes 3-3-1-3, das auf personelle Überlegenheit in jeder Spielsituation angelegt ist und auf der Basis von enormen Pressing und mit schnellen Spielern funktioniert, die im Angriffs-Fall wie in einer Tsusami-Welle nach vorne preschen.
Dass just Spanien, also das einzige andere strategisch innovative Team dieser WM, einer der Gruppen-Gegner sein wird, macht die Sache unglaublich interessant. Vielleicht wird das Vorrundenspiel am 25. Juni das einzige wirklich Erhellende sein, was diese gesamte WM bringen wird.
Im Optimalfall sind zu diesem Zeitpunkt beide Mannschaften schon durch und können so in aller Freiheit zeigen, was sie vermögen.
Es fehlen Altstar David Pizarro (Roma), der nicht mehr international spielt, sowie Pedro Morales von Dinamo Zagreb, Claudio Maldonado von Flamengo und Osvaldo González von Toluca - sonst hat Bielsa das weltweit verstreute chilenische Talent recht komplett beisammen.
Ein Problem kann die aktuell aufgetretene Verletzung von Humberto Suazo, dem Mittelstürmer sein, der sein Team fast im Alleingang nach Südafrika schoss. Aber das sollte angesichts der Macht dahinter, der rollenden Welle, die aus Leuten wie Mark Gonzales (ZSKA), Alexis Sanchez (Udine), Arturo Vidal (Leverkusen) oder Matias Ferndandez (Sporting) bestehen, wurscht sein.
Die Defensive agiert unter der Anleitung von Waldo Ponce und Gary Medel eher spielerisch, Gonzalo Jara von Westbrom z.B. ist ein umgeschulter Mittelfeldspieler.
Die defensive Dreierkette im Mittelfeld (mit Marco Estreda im Zentrum), deren Außen zwischen Abwehr im Verteidigungsfall und zusätzlichen Angreifern im Vorwärtsdrang pendeln, dürfte personell durchgemischt werden, auch weil sie die anstrengendste Arbeit in diesem Biesla-System leisten
Das klingt alles fast lüstern erwartungsfroh - stimmt, ist es auch.
Denn sonst wird diese WM zwar einiges an hochwertiger taktischer Cleverness und systemischer Intelligenz bieten - aber in einem zutiefst ausgelotenen Fußball-Universum gibt es eben nur ganz selten echte Innovation.
Schade um die Schweiz,
denn die sollte da keine reelle Chance haben dagegenzustehen. Und auch die letzten Tests haben gezeigt: das doch ein wenig zu biedere 4-4-2 hat sich eingefräst wie ein zu oft eingeschalteter Teletext in den alten Fernseher.
Von der pfiffigen Interpretorik der Schweizer Teams der letzten Turniere (und die Schweiz, die uns seit Jahren als Vorbild dienen sollte, wie man aus wenig viel macht, wie man ausbildet, wie man sich eine Philosophie verpasst, wie man Trainingslehren aus dem Susand adaptiert usw, ist ja seit Jahren konstant bei allen großen Turnieren dabei) ist aktuell nicht so viel zu spüren.
Ich denke, dass das in vielen anderen Gruppen dieser WM immer noch reichen würde, hier aber...
To get my point right: es ist für kleine Fußball-Nationen, die noch dazu nicht auf einen Auftrag der Geschichte verweisen können, wichtig und notwendig so vorzugehen, wie die Schweiz in den letzten 15 Jahren. Der (relative) Erfolg der kontinuierlichen Teilnahme zeigt es. Und natürlich ist die ausführliche taktische Schulung der jungen Spieler auch im Kontext der Nationalteams (von der U16 bis zum A-Team rauf) eine Verpflichtung - und trägt entsprechende Früchte.
Die läppischen und jämmerlichen Ausreden-Arien der Constantinis dieses Landes, die sich ausschließlich darauf konzentrieren, diese nötige Arbeit als deppat und brauchmaned zu diskreditieren und somit zu vermeiden, tragen die Schuld an der österreichischen Niederung.
Nur: innerhalb der Schweizer Entwicklung gibt's halt auch graduelle Unterschiede und Feinheiten. Und aktuell ist das Personal womöglich einen Deut zu schwach, um die Vision, die Roy Hodgson da einmal hatte und die vom Verband und Coaches wie Fringer, Kühn und jetzt eben Hitzfeld fortgetragen wird, so mit Leben zu erfüllen, dass es für eine Zwischenrunde reicht, die 2006 erreicht wurde und auch 08 verdient gewesen wäre.
Plus/Minus-Wertung
Egal, ob es Gelson, Inler oder Huggel in der Mittelfeld-Zentrale sind - das Loch hinter den Spitzen ist zu groß und kann auch von den Außenspielern (Barnetta, Behrami) und dem Altherren-Sturm mit N'Kufo und Frei nicht geschlossen werden.
Die Abwehr-Zentrale mit Benaglio, Senderos und Grichting ist die einzige Bank, auf die die Schweiz zählen kann. Und Eren Derdiyok oder Xherdan Shaqiri halten die Fahne der immer neu integrierten Secondos hoch.
Die Verletzten-Liste ist beträchtlich: Spycher, Streller, Dzemaili, Djourou usw.
Johan Vonlanthen hat sich in Salzburg zu stark zurück entwickelt um noch in Frage zu kommen, der beste Rechtsverteidiger der österreichischen Liga, Christian Schwegler, stand - im Gegensatz zu Bruder Pirmin - nie zur Debatte (Lichtsteiner ist zu dominant), die Degens Philip und David sind ebenso draußen.
Dafür steht der 77-jährige Hakan Yakin als Joker im Aufgebot.
Die vielverwandten Bobo-Außenseiter
Honduras ist das Team unter den paar totalen Underdogs (Neuseeland, Nordkorea) bei dieser WM, auf die sich in den letzten Tagen die einigen konnten, die das brauchen: einen Außenseiter, auf lustig begleiten. Das hat auch damit zu tun, dass man hierzulande nicht nur über den Fußball im kleinen mittelamerikanischen Staat, sondern (im Gegensatz zu sofort bei der Hand befindlichen Klischees im Fall der beiden Mitkonkurrenten) auch über das Land selber nichts weiß.
Nichts.
Also: nachschaun.
Honduras hat keinen Kanal, keinen Sandino, keinen Romero, kaum Mayas und auch keine Ballspiel-Reputation wie Costa Rica.
Honduras ist schweinearm, halt ganz schön viel Umwelt und Fertilität, bespielt zwei Weltmeere und 1969 immerhin schon einen Fußball-Krieg. Nach einem Quali-Spiel gegen Nachbarn El Salvador kam es zu Spannungen und einem zehn Jahre langen Konflikt. Die aktuelle politische Situation: instabil.
1982 war man in Spanien mit dabei und erreicht mit einem 1:1 gegen die Hausherrn den wohl größten sportlichen Erfolg aller Zeiten.
Hierzulande kennt man Maynor Suazo einen guten zentralen Mittelfeldspieler mit solider Technik und gutem Überblick aus seiner Zeit bei Salzburg (im Übergang von der Austria zu Red Bull). Sein Cousin David Suazo ist als Stürmer noch mit im aktuellen Aufgebot.
Ein weiterer Cousin, der defensive Midfielder Hendry Thomas, spielt bei Wigan, dem Scharner-Club.
Es ist eine kleine Welt, ist es nicht?
Der Rest der Catrachos (wie etwas Maynor Figueroa, auch bei Wigan) ist, dem Vernehmen nach, nicht mit den Suazos verwandt.
Wilson Palacios, der Star der Mannschaft, Mittelfeldler bei Tottenham, hat etwa nur einen kleinen Bruder Johnny, der im Sturm aufgeboten wird, mit dabei. Die anderen Brüder (Milton, Jerry, und Edwin) haben's nicht geschafft.
Kapitän ist Amado Guevara (keine Verwandtschaft), er ist ebenso wie Alvarez oder de Leon, die in Italien spielen, und der Rest des Teams vorrangig in der Ü28 anzusiedeln.
Honduras ist also eher alt, spielt eher vorsichtig, ein 4-4-1-1 und wird es schwer haben, nachhaltig in Erinnerung zu bleiben.
Außer Hermann Maier macht vor Ort den Motivations-Coach.
Gruppen-Fazit
In meinen feuchten Träumen spielen Spanien und Chile bei dieser WM ja gleich zweimal gegeneinander.
Einmal in der Gruppe und noch einmal im Finale.
Nuff said?