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Roland Gratzer

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8. 6. 2010 - 19:00

Schwarmkopf

Der Publikumsjoker in der Millionenshow hat (fast) immer recht, durch das Internet wächst die kollektive Intelligenz unaufhaltsam. Blöderweise machen uns die Emotionen immer wieder einen Strich durch die Rechnung.

Plötzlich erhebt sich der liebe Wal und kracht auf das hilflose Aussichtsboot. Ein paar tausend Kilometer weit entfernt setzen sich unzählige Muscheln an Öltankern fest und bringen sie zum Kentern. Ein Heer von verseuchten Krabben überrennt New York und ein tödlicher Tsunami vernichtet halb Nordeuropa. Nachdem sich die Menschheit vom ersten Schock erholt hat, entdecken sie eine bisher unbekannte Lebensform in den Tiefen des Ozeans. Milliarden von Einzellern, die gemeinsam agieren und alle anderen Meeresbewohner beeinflussen. Die letzten Überlebenden sind mitten im Kampf mit einer kollektiven Intelligenz, die sich lange unentdeckt neben der Menschheit entwickelt hat. Die wiederum agiert alles andere als intelligent und will die neuen Mitbewohner mit einer Chemikalie vernichten. Der Kampf zwischen CIA und den internationalen Wissenschaftern eskaliert.

Frank Schätzings populär- bis ein bissi wissenschaftlicher Roman "Der Schwarm" mag zwar auf den ersten Blick dystopisch und konstruiert klingen, seine Idee eines intelligent agierenden Kollektivs (in seinem Fall diese schlatzigen Einzeller) ist aber weder neu noch abwegig.

No more Zwangsindividualismus

Thomas Malone

http://cci.mit.edu/malone/index.html

Thomas Malone ist nicht nur am coolen MIT, sondern war früher auch am Xerox Palo Alto Research Center

Stichwort: Kollektive Intelligenz. Ameisen haben sie, die Borg sowieso, und seit dem Internet drängt sie auch ins Bewusstsein unserer zwangsindividualistischen Gesellschaft. Dort war sie aber schon immer, wie der US-amerikanische Wissenschafter Thomas Malone erklärt.

Malone ist Gründer und Leiter des Center for Collective Intelligence am MIT und war vor kurzem in Österreich zu Gast. Kollektive Intelligenz, der Einfachheit halber von nun an KI genannt, definiert er als "eine Gruppe von Individuen, die auf die eine oder andere Weise intelligent agiert". Unter diese Definition fallen eigentlich alle möglichen Menschenansammlungen: Familien, Dörfer, Indie-Bands, Regierungen oder Nationalmannschaften. Sogar die Armee nimmt Malone in seine Definition ein, auch wenn deren Agieren meistens nicht einmal ein winziges Intelligenz-Addon besitzt.

Borg-Raumschiff

Paramount Pictures

Es braucht schon eine kollektive Intelligenz wie die Borg um draufzukommen, dass aerodynamische Raumschiffe völlig unnötig und platzraubend sind.

Der Schwarm wird digital

Die Telekom Austria hat ein paar österreichische Chefblogger zum Meet and Greet mit Malone eingeladen. Hier die Berichte von Ritchie Pettauer und Jana Herwig.

Durch das Internet wächst die KI unaufhaltsam. Auf Wikipedia etwa kann jeder mitarbeiten, ohne sich dafür mit Studienabschluss oder Empfehlungen qualifizieren zu müssen. Ist der Text schlecht, übernimmt das editierende Fleischermesser der Community den Rest. Für Malone ist daneben auch Google ein Beispiel für funktionierende KI, schließlich sammle die Website das Wissen unzähliger Individuen und gibt damit intelligente Antworten auf alle möglichen Fragen. Meinen Einwand, dass am Ende trotzdem nur die Aktieninhaber von diesem gesammelten Wissen profitieren, lässt Malone nicht gelten. Schließlich würden wir ja alle davon profitieren. Wenn schon nicht finanziell, dann wenigstens mit neuen kollektiv generierten Informationen.

Ohne Autoritäten kommen auch diese Schwärme nicht immer aus. Bestes Beispiel dafür ist das Betriebssystem Linux. Viele Entwickler arbeiten fleißig an ihren Open-Source Lösungen und am Ende entscheiden Linus Torvalds und seine Freunde, oder zumindest Qualität und Usability (um nicht ganz so plakativ zu werden), was aufgenommen wird und was nicht. Malone nennt diesen Prozess das "Hierachie-Gen". Er und seine Freunde haben diese biologische Metapher gewählt, um verschiedene Organisationsformen von Gruppen zu beschreiben.

Internet

South Park Studios

Das Internet nimmt sich einfach unsere Intelligenz und macht daraus eine kollektive.

So einfach ist es auch wieder nicht

Die hoffnungsvolle Theorie klingt einfach: Gruppen agieren gemeinsam und dadurch viel intelligenter als ein Individuum allein. Im Interview mit der Futurezone hat Malone ein simples Beispiel gebracht: "Wenn sie alleine einen Intelligenztest machen, dann wird nur ihre Intelligenz gemessen. Wenn fünf Personen den Intelligenztest gemeinsam machen, dann messen sie die Intelligenz von allen fünf Personen." So einfach ist es dann aber nicht, wie auch Malone erklärt. Schließlich gibt es genug Gruppen, die zwar gemeinsam agieren, aber alles andere als intelligent.

Das führt automatisch zur Politik. Dass Parteien nicht immer den Fortschritt der Gesellschaft im Kopf haben, ist wenig überraschend. Aber auch die Wähler sollten an ihrer Intelligenz arbeiten. Zurück zur hoffnungsvollen Theorie, die immer utopischer wird: Je mehr Menschen sich an politischen Entscheidungen beteiligen, desto besser und somit intelligenter sind diese Entscheidungen. Demnach ist die Demokratie unfehlbar und die Menschheit müsste sich langsam aber sicher zur Sternenflotte entwickeln. Doch auch hier sticht der Publikumsjoker nicht. Es entscheidet nämlich nicht unbedingt die Intelligenz, bei wem ich mein Kreuzchen mache. Andere Faktoren wie Emotion und Angst machen sich in der Wahlkabine breit und im Verbund mit allen anderen triebgesteuerten Wahlberechtigten treffe ich eine kollektive Entscheidung, die nicht selten strunzdumm ist.

Ameisen

http://www.flickr.com/photos/libaer2002/

Wer Angst vor kollektiver Intelligenz hat, spricht gern vom stalinistischen Ameisenstaat, in dem das Individuum allein nicht frei denken darf.

A Bug's Life

Zum Schluss ein wenig Plakatismus: Wollen wir wirklich sowas wie ein Ameisenstaat werden, in dem nur das Kollektiv Entscheidungen trifft und das einzelne Insekt nur eine bestimmte Sklavenarbeit verrichten kann, ohne ein eigenes Bewusstsein zu entwickeln?
"Erstens würde ich Ameisen nicht als dumm bezeichnen", belehrt mich Malone. "Außerdem kann auch ein Mensch, zumindest einer im Westen, nur für kurze Zeit völlig auf sich allein gestellt überleben". Wir brauchen einander, sonst wird es erstens schnell fad und zweitens lebensgefährlich. Das war schon immer so. Jetzt heißt es halt kollektive Intelligenz.