Erstellt am: 8. 6. 2010 - 16:55 Uhr
WM-Journal '10-8.
Seit 1. Juni erscheint dieses WM-Journal zum Turnier in Südafrika - in den ersten Tagen mit einer Vorstellung der einzelnen Vorrunden-Gruppen.
Das WM-Journal gibt es auch als Podcast.
Hier der Link zur kompletten offiziellen Kader-Liste der FIFA,
hier ein ausführlicher statistischer Überblick bei transfermarkt.at.
Hier die kompletten Kader der Gruppe auf einen Blick.
Und das ist die Gruppe G-Einschätzung der werten Sport-Kollegen.
Außerdem ist seit heute deren WM2010-Site online.
Immer eine Empfehlung wert: der WM-Auftritt des Guardian.
Alle sprechen von der Group of Death, wenn von der Gruppe G die Rede ist: Brasilien, Portugal, die Cote d'Ivoire - das sind allesamt Große, denen man was zutraut, Viertelfinale aufwärts. Und dazu noch der unangenehmste Underdog, den man sich vorstellen kann: die Bestien von der Achse des Bösen, die nordkoreanischen Bildermaler, quasi frisch von der Skandal-Austellung im MAK eingeflogen, gekommen um zu terrorisieren; oder so.
Sorry, ich halte davon genau gar nichts.
Zum einen, weil diese Gruppe gar nicht tödlich, sondern eh recht deutlich determiniert ist.
Zum anderen, weil - selbst wenn - so ein Schockbad gar nicht schadet, sondern, im Gegenteil, abhärtet und Weltmeister produzieren kann. Das nennt man Kompetitivität, das wäre eine erhöhte Wettbewerbsfähigkeit, von Anfang an.
Zudem glaube ich - aus verschiedensten Gründen - mehr dazu weiter unten - nicht an die Côte d'Ivoire. Und, so interessant das werden kann, auch Nordkorea wird sich nicht durchsetzen.
Das soll nicht heißen, dass Brasilianer und Portugiesen lächelnd Arm in Arm durch diese Gruppe durchspazieren werden (eher sogar im Gegenteil) - die Todes-Meldungen jedoch sind, angesichts der Lebendigkeit der Teilnehmer, stark übertrieben.
Der fade Weltmeister: Brasilien
Die Geschichte des ungeliebten und zweckorientiert spielenden Co-Favoriten für die WM 2010 beginnt im Jahr 1994. Am 17. Juli stemmt ein stämmiger Mann mit dezenter Igel-Frisur leise lächelnd den WM-Pokal in die heiße Sonne, die in die Pasadena Rose Bowl runterbrennt. Er heißt Carlos Caetano Bledorn Verri, genannt Dunga (nach einem von Walt Disneys sieben Zwergen) oder auch "Alemão", der Deutsche, nicht weil er 94 gerade beim VfB Stuttgart tätig war, sondern weil sein, vorsichtig gesagt, "ergebnisorientierter" Stil so deutsch war.
Dunga regierte im Mittelfeld der von Carlos Alberto Parreira trainierten Seleção, gemeinsam mit dem bedrohlichen Mauro Silva blockte er alles ab, was durchzukommen drohte.
Dieses eher unattraktive Spiel wurde belohnt - mit einem Finale gegen eine andere auch nicht wesentlich forderndere Mannschaft, nämlich Italien - und weil auch die anderen Teilnehmer nicht viel zustande brachten, war das schwache und matte Endspiel, das erst im Elferschießen entschieden wurde, Synonym einer öden WM.
Und Dungas Brasilien war ein würdiger Sieger.
So sehr sich alle über den vierten Titel der Seleção abfreuten - die Kritik am Stil war nicht zu überhören; und sie führte zu einem Umdenken, einer Rückkehr zum attraktiven Angriffs-Fußball, der zwei Finalspiele in Folge erbrachte. 2006 scheiterte Brasilien mit einem blasierten, ein wenig überalterten Star-Team und schon schlug das Pendel wieder in die andere Richtung. Der als Clubtrainer unerfahrene Dunga wurde geholt, um wieder mit schnörkellosem Fußball Erfolg zu haben.
Den hat Dunga. Er gewinnt die Copa America, er gewinnt den Confederations Cup - und jetzt will er den WM-Titel.
Team Brasil 94:
Taffarel; Jorginho/Cafu, Aldair, Marcio Santos/ Ricardo Rocha, Branco/Leonardo; Mauro Silva, Dunga; Zinho/Paulo Sergio, Mazinho; Bebeto, Romario/Viola. Der junge Ronaldo war Ersatz.
Und die strategischen und personellen Mittel, die Dunga einsetzt, erinnern verblüffend an 1994.
Wie damals kommt Brasilien mit einem sicheren Tormann und einer für ihre Verhältnisse ebenso beinharten wie ballsicheren Abwehr.
Wie damals blocken zwei Granitblöcke in der Mittelfeld-Zentrale alles ab.
Wie damals ist nur genau ein Kreativspieler für die Offensiv-Zentrale nominiert - und die Diskussion um Kaka erinnert durchaus an die damalige Diskussion um Spielmacher Rai, den kleinen Bruder des großen Socrates. Der wurde 94 geopfert - zugunsten zweier Rackerer auf den Flügel-Halb-Positionen und zweier Stürmer (Romario und Bebeto).
Plus/Minus-Wertung
2010 wird Kaka wohl "überleben", weil es zwar die beiden Halb-Flügel (Ramires und Robinho) aber nur einen Stürmer (wohl Luis Fabiano) geben wird. Kaka wird also als hängende Spitze in einem sehr durchlässigen 4-2-3-1-System fungieren.
Weil der rechte Außenspieler Ramires sowieso eher defensiv orientiert ist und der Verteidiger auf seiner Seite (egal ob Maicon oder Dani Alves) Zug nach vorne hat, wird sich das oft auch in ein 4-3-3 verschleifen, ein defensiv-italienisches.
Ganz nach Dungas Geschmack.
Dass die alte Partie (Ronaldinho, Ronaldo, Adriano etc.) fehlt, hat mit all dem wenig zu tun. Die sind aus rein sportlichen Gründen - zurecht - draußen.
Mit Melo, Gilberto Silva, Josue, Elano und eben Ramires sind gleich fünf Mittelfeldspieler im Kader nach diesem Gusto. Dass es dazu solide Kämpfer wie Kleberson und Julio Baptista und keine weiteren Filigran-Techniker der Marke Diego oder Pato einberufen hat, spricht ebenfalls eine deutliche Sprache. Und: Sieht man von Robinho ab, befinden sich gerade einmal drei Angreifer im Kader. Auch eine Ansage.
Wohl deshalb liebt niemand diese brasilianische Nationalmannschaft. Man fürchtet sie, aber Zuneigung erhält sie selbst in Brasilien nur bedingt - was zu furchterregenden Verbal-Kriegen zwischen Dunga und der Medien-Öffentlichkeit führt. Dunga geht es ums Ergebnis, er will den sechsten Titel. Die Nation, die ihren Fußball so liebt, weil er der schönste der Welt ist, will den auch - aber eben mit schönem Fußball; weil das Teil der kollektiven Identität ist und jedes Zuwiderhandeln eine Schande.
In diesem Zwiespalt ist die Seleção derzeit gefangen. Ob sie mit spielerischen Mitteln (denn vielleicht reißen Dani Alves, Elano, Kaka und Robinho die Macht an sich und spielen effektiv UND schön zugleich) überzeugen werden - oder ob sie sich auf die fade Dunga-Show beschränken: vorne mit dabei werden sie allemal spielen.
Weltmeister der Herzen, ja eh. Portugal
Die Selecção (man merkt, portugiesisch und brasilianisch, das ist nicht dasselbe, da ist wesentlich mehr Unterschied als zwischen Deutsch und Österreichisch, Serbisch und Kroatisch, Tschechisch und Slowakisch - ein Ozean steht dazwischen) wird seit zehn Jahren jedesmal als Co-Favorit bei WM/EM-Titelkämpfen gehandelt und hat sich mit ein paar Semifinal-Teilnahmen auch gut etabliert.
Was zu mehr fehlt: so ein richtig guter Stürmer, so eine richtig kompakte Abwehrleistung, so ein richtig gut organisiertes Mittelfeld und so ein richtig guter Tormann. Manchmal gab es das eine, dann fehlte das andere, dann wieder waren es nur 80 Prozent und der Gegner hatte fünf Prozent mehr - Portugal ist das stabile Scheitern auf hohem Niveau gewohnt.
Nach Felipe Scolari hat nun Carlos Quieroz übernommen, der Erfinder des neuen portugiesischen Fußballs, der als Coach der U20 1989 und 91 zwei Titel mit der Generation Figo/Rui Costa/Paulo Sousa/Joao Pinto einfuhr und seitdem bei diversen Spitzenklubs (ManU, Real, Chelsea) tätig war.
Quieroz hat dieselben Probleme wie immer. Und manchmal einen Lösungsansatz, manchmal keinen.Wegen des Stürmer-Problems wurde Sportings Brasilianer Liedson eingebürgert, zur Sicherung des Mittelfelds wurde der alternde Star Deco (auch ein eingebürgerter Brasilianer, wie wir nicht vergessen wollen) in eine Defensiv-Kraft umgeschult.
Und ein paar Stunden später ist Nani auch schon verletzt (er wollte, im Training, einen Ball akrobatisch-chic nehmen, der Depp) und fällt aus. Schwächt Portugal zusätzlich.
Die Offensive hat Klasse, ist aber ausrechenbar.
An den Flügeln wirbelt Nani von ManU und übersteigt Cristiano Ronaldo von Real, die Liedson füttern sollen. Dahinter ist eher wenig los. Auch die früher gerne offensiven Außenverteidiger sind (mit Ausnahme von vielleicht Coentrao) zahm geworden und mit Ausnahme von Raul Meireles strahlen die Mittelfeld-Spieler in diesem 4-3-3 keine Gefahr aus.
Ich liebe den portugiesischen Fußball, seinen Stil, seinen Charme und kann deshalb nicht sonderlich objektiv sein. Ich sehe eine stabile Abwehr aber eine fragile Offensive und wenig Push dahinter. Ich würde mich aber extrem gern täuschen.
Trotzdem glaube ich an den Aufstieg. Auch weil ich nicht an das nächste Team glaube.
Zerrissen im Zank und Hader: die Côte d'Ivoire
Für alle Eindeutschmüsser: wenn ihr müsst, dann tut; und sagt Elfenbeinküste. Mir wurscht. Ich halte mich an die Spielregeln: "the Ivorian government officially discourages this usage, preferring the French name Côte d'Ivoire to be used in all languages."
In einem unlängst erschienenen Interview (ich glaube im Guardian) hat Sven-Göran Eriksson, der Schwede, der nach einem misslungenen Ausflug in Mexico, die Côte d'Ivoire übernommen hat (nach deren misslungener Reise nach Angola zum Africa-Cup im Jänner) erzählt, was er vorgefunden hatte: eine in drei Gruppen zerfallene Truppe, die nicht miteinander reden, geschweige denn spielen wollte.
Das ist in Wahrheit nicht das Resultat des bescheidenen Auftritts, der im (verdienten) Viertelfinal-Aus gegen Algerien gipfelte, sondern das Resultat einer Selbstbedienungs-Mentalität, eines hierarchisch gewachsenen Star-Systems, bei dem nicht die Leistung und die sportliche Klasse, sondern das Standing bei den einzelnen Bestimmern innerhalb des Teams die Mannschaft aufstellte.
Vahid Salihodzic, der bosnische Franzose, konnte Kopf stehen - sein Team spielte nicht mit, sondern gegeneinander; oder wahlweise gegen ihn, gegen den Verband, gegen einzelne ungeliebte Akteure etc.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Svengo, der ruhige Schwede, diesen Schwachsinn innerhalb von weniger als einem Jahr abgestellt hat. Sein Kader hat sich de facto nicht geändert, nur Emerse Fae und der kleine Baky Kone fehlen, dafür sind Romaric oder Gohouri wieder dabei.Sonst: same old story.
Alle Anführer und Häuptlinge sind wieder da: Superchef Drogba, die Toure-Brüder samt Eboue, der alte Chef Aruna Dindane, der neue Chef Zokora, dazu Gervinho, der Typ mit der Emo-Frisur und mit Boubacar Barry der vielleicht schwächste afrikanische Tormann des Turniers.
Auch die Taktik ist dieselbe geblieben: ein 4-3-3 mit den drei zu gleichartigen Zokora-Yaya Toure-Tiote.
Was also soll sich da geändert haben?
Bewegung in die Sache brachte erst die Verletzung von Didier Drogba, dem Superstar von Chelsea (home of the Verletzungsanfälligkeit dieser Tage). Mit ihm fällt nicht nur die zentrale Anspielstelle und höchste Gefahr vornedrin weg (und Dindane wird ihn nicht adäquat ersetzen können), sondern eben auch der Häuptling der mächtigsten Clique innerhalb des Teams.
Abends spielte der junge Seydou Doumbia von YB in der Sturm-Zentrale; das wäre ein Überraschungs-Coup.
Drogba bleibt aber in Südafrika, weil er vielleicht im Laufe des Turniers doch noch mitspielen kann.
Das heißt, dass er - neben seiner Regeneration - jede Menge Zeit hat, sich draußen, im Umfeld, in der Delegation, auf der Bank wichtig zu machen. Das heißt, dass er eine Art Nebentrainer geben wird und die Besserwisserei, die er sonst mit verachtungsvollen Gesten auf dem Feld pflegt, draußen anbringen wird, wo sie viel gefährlicher ankommt.
Konflikte sind also vorprogrammiert. Neben-Coach Drogba wird sein Team quasi rausschießen aus dem Turnier, sofern nicht jemand einen Trick erfindet, der ihn andersweitig beschäftigt.
Deshalb kann ich nicht an einen Erfolg der Côte d'Ivoire glauben: Streiterte, die eher ihre Egos als den Teamerfolg im Auge haben, sind noch selten als Sieger vom Platz gegangen.
Die demokratische Volksrepublik Korea. Nordkorea.
Als Kind habe ich immer Mühe gehabt, das mit den zwei deutschen Staaten zu verstehen, warum da eine BRD und eine DDR antritt, die dann auf englisch abkürzungstechnisch auch noch FRG oder GDR hießen.
Mit der DVK oder KDV, der Demokratischen Volksrepublik Korea und der Republik Korea (RK oder KR) gibt es jetzt nur noch eine solche bewusste ideologische Verschleierung und Verwirrung (obwohl: da ist doch auch noch die DR Congo und die Rep. Congo).
Danke.
Ich darf Nordkorea bzw. Südkorea sagen, auch weil mir (im Gegensatz zur Côte d'Ivoire, siehe oben) wurscht ist, was Partei/Regierungswillen aus Pjöngjang oder dem Malmö genehm wäre.
Über das nordkoreanische Fußball-Team wissen wir angenehm wenig. In der Vorbereitung präsentierte man als einzige Mannschaft eine echte Fünfer-Abwehr samt davor agierendem Sechser und einem Dreier-Mittelfeld, das ausschwärmen und den einzigen Star einsetzen darf: Jong Tae-Se.
Der ist mir (und das steht glücklicherweise schon da drin, sonst könnte man glauben, ich male das nur ab, weil der Mann seither schon als Wayne Rooney Asiens vorabgefeiert wurde) in einem Testspiel aufgefallen, als er (noch mit der Nummer 23) unerhörte Attacken ritt und ein selbstbewusstes Tor aus spitzem Winkel erzielte, für das ganz Österreich ein Jahr sparen müsste.
Jong Tae-Se ist Sohn in Japan lebender Koreaner, der aus geografischen Gründen (die Details stehen hier drin) in eine Chongryon-Schule kam, die ihn dann lieber für den Norden als für den Süden spielen ließen. Eine der vielen völlig absurden Geschichten rund um diese WM.
Eine andere ist auch Nordkorea passiert: der Coach wollte einen zusätzlichen Stürmer als dritten Tormann tarnen - flog auf, der Arme darf jetzt nicht spielen. Fehlt nur noch, dass man versucht, zu zwölft aufzulaufen.
Jong und die anderen werden aber auch zu elft allen Gegnern das Leben schwer machen - und schon allein deshalb überraschen, weil alles, was sie tun werden, neu und deshalb überraschend sein wird.
Gruppen-Fazit
Die beiden portugiesischsprechenden Großmächte werden es schaffen, Brasilien sogar sehr sehr weit. Die Côte d'Ivoire wird sich zerfleischen, die Bemühungen der Koreaner werden nicht reichen.