Erstellt am: 8. 6. 2010 - 07:44 Uhr
Vintage Brooklyn
Brandnew you are retro
Der Trendgeist von heute twittert: Mach Vintage, Baby! Nichts geht mehr unter fünf Mal aufgetragen, wiederbelebt oder abgesessen. Hirschgeweih über dem Kamin, Speakeasies in den Trendbezirken, Waffenräder unterm Hipster-Popo. Alles was war, muss noch einmal sein. Und immer wieder.
Wirtschaftskrise, digitaler Identitätskater, Stilzyklen oder schlicht und einfach die gute alte Angst vorm Tod? Auf die Frage, warum die Populärkultur dieser Tage, auch die Kunst, das Design, die Musik oder die Fotografie lustvoller denn je den Zeichen der Vergangenheit nachjagen, auf diese Frage gibt es wohl mehr Antworten als 70er-Jahre Krawatten breit sein dürfen (in Pixel gemessen). Auffallend ist, dass hochvernetzte Jetztzeitmenschen immer weiter zurückblicken, wenn es um Wiederaufbereitung und Neuaneignung geht.
Christian Lehner
Trümmerfrauen und Swing Chic in Berlin samt Trend zum abgeratzten Gebrauchtkinderwagen made in Wirtschaftswunderzeiten (in diese Dinger würde ich nicht einmal ein faules Ei legen). Der Pionier Style des Organic, Green und Urban Gardening Movements in Brooklyn. Die unendliche Liebesgeschichte zwischen Pop, Mode und den 80ies (besonders heiß in 11238: die 80er Interpretation der 40er und 50er Jahre, aufgekrempelte Jeans in der dritten Saison, gepunktete und geblumte Kleider und Sonnenbrillen mit geschwungenen Spitzrahmen, dazu Frankie Goes To Hollywood und Jung-Morrissey-Gedächnisfrisuren). Weiters die in der Digi-Fotografie angesagte Monochrom-Einstellung mit Faible für auswaschende Überbelichtung (siehe unten) oder gleich Uropas Familienalbum gefleddert.
Der Verfasser dieser Zeilen nimmt jeden Tag auf einem hölzernen Bürosessel mit Metallhydraulik aus den 20er Jahren Platz, hat vorhin seinen original 60ies Kurzkrempenhut abgelegt und trauert noch immer dem an Rahmen und Amaturenrost verblichenen Schwinn Bike BJ 1969 nach.
Die Frage am Nachmittag vor dem fährentechnisch dann doch versäumten Yeasayer Konzert lautete: Wieviel Vintage passt in einen einzigen, kurzen Spaziergang durch die Neighborhood von Clinton Hill/Brooklyn? Den Anlass dazu lieferte ein Blick aus dem Fenster.
Der Messerwetzer
Christian Lehner
Der Inspirator dieser Fotosafari war gerade vorgefahren. Er hört auf den Namen Mike und betreibt „since 1941“ eine mobile Klingenschleiferei. Ein helles Schulglockenbimmeln eilt seinem dahintuckernden Gefährt voraus, sodass die Locals ihre stumpfen Schneidwerkzeuge rechtzeitig in Zeitungspapier wickeln und runter auf die Straße tragen können. Geschärft wird für vier Dollar pro Klinge. Den Nachbarschaftstratsch gibt’s gratis dazu, obwohl Mike als äußerst verschwiegen gilt. Sein verächtlicher Blick auf das Ikea Messer, das ich ihm reiche, ist aber auch so aussagekräftig genug. Das mobile Unternehmen hat wohl der Großvater oder Großonkel gegründet. Die zwei dösenden Hunde im Cockpit wirken jedenfalls ziemlich vintage.
Christian Lehner
Christian Lehner
Christian Lehner
Christian Lehner
Die Benzinkutsche
Das messerscharfe Messer in der Küche deponiert, zieht es mich in Richtung Brooklyn Flea, dem zurzeit vielleicht angesagtesten Flohmarkt des Planeten mit heißer, dementsprechend überteuerter Altware. Der Weg führt über die Green Avenue an einer Garage vorbei, in der ein Grüppchen Witze crackender Pensionäre alte Karren auf Vordermann bringt, während im Hintergrund Stax, Mowtown und manchmal auch Salsoul Platten laufen. Hier im Bild ein Ford, BJ 1931, wie mir einer der Hobbymechaniker in Latzhosen verraten hat. Die genaue Typenbezeichnung habe ich allerdings vergessen. Ein T war's nicht.
Christian Lehner
Der Flohmarkt
Am Brooklyn Flea an der Lafayette Street das zu erwartende Vintage Gold: ausgestellt und/oder mit amerikanisch freundlicher Semiarroganz getragen. Ich kaufe gelegentlich neue, selbt gemachte T-Shirts junger Designer. Sonst bin ich – wie gut 90 Prozent der Anwesenden – zum Schauen da. Wesentlich günstiger, allerdings auch weniger erlesen präsentieren sich die zahlreichen Stoop Sales und Street Markets, die parallel zum Brooklyn Flea in der Gegend stattfinden.
Christian Lehner
Christian Lehner
Christian Lehner
Christian Lehner
Christian Lehner
Christian Lehner
Christian Lehner
Die Neighborhood
Raus aus dem Gedränge und zurück über die Clinton Avenue mit ihrem Historical District und den großen, weit über 150 Jahre alten Town Houses der Pratt Familie (der frühe Ölbaron Charles Pratt lebte hier wie so viele Industrielle des 19 Jahrhunderts, denen Manhattan zu eng und gefährlich wurde. Erst viel später kamen die Italiener und noch später Einwanderer aus den West Indies und dem Süden der USA. Der Ölbaron stiftete übrigens das nahe Pratt Institute, eine der begehrtesten Kunstschulen New Yorks). Vintage auch die Brooklyn typischen Brownstones und Old Cars of Clinton Hill.
Sometimes it's like in the movies. Sometimes it's like in the dreams.
Christian Lehner
Christian Lehner
Christian Lehner
Christian Lehner
Christian Lehner
Christian Lehner
Christian Lehner
Christian Lehner