Erstellt am: 7. 6. 2010 - 18:17 Uhr
WM-Journal '10-7.
Seit 1. Juni erscheint dieses WM-Journal zum Turnier in Südafrika - in den ersten Tagen mit einer Vorstellung der einzelnen Vorrunden-Gruppen.
Das WM-Journal gibt es auch als Podcast.
Hier der Link zur kompletten offiziellen Kader-Liste der FIFA,
hier der weitreichende Überblick bei transfermarkt.at.
Hier die kompletten Kader der Gruppe auf einen Blick.
Und das ist die Gruppe F-Einschätzung der werten Sport-Kollegen.
Immer eine Empfehlung wert: der WM-Auftritt des Guardian.
Achtung, Quiz!
Wer jetzt und sofort freihändig einen Neuseeländer, drei Paraguayos, fünf Slowaken und neun Italiener aufsagen kann, die bei dieser WM spielen werden, der darf sich selber einen Orden verleihen.
Die vier Starter in dieser Gruppe kennt nämlich keiner.
Eigentlich.
Dabei ist Paraguay fast schon Inventar.
Dabei ist die Slowakei ein enger Nachbar.
Dabei ist Italien der amtierende Weltmeister.
Diese Gruppe ist uns in Wahrheit so unbekannt wie das englische Cricket-Team.
Und das ist doch wirklich erstaunlich.
Aber es hat auch seine Gründe.
Der unbekannte Weltmeister: Italien
Normalerweise ist es so: nach zwei, drei Minuten von Deutschland gegen Bosnien erkenne ich alle deutschen Spieler sowie ihr aktuelles System; und zwar an Optik, Spielstil, zur Not nach Logik der Position. Dasselbe galt unlängst für Niederlande gegen Ghana - ich hatte die eingeblendeten Aufstellungen verpasst und musste die Mitglieder der Teams (via TV) am Feld identifizieren: kein gröberes Problem, auch wenn die Namenszeilen kaum leserlich sind.
Bei Spielen des italienischen Nationalteams brauch ich wesentlich länger. Nicht nur, weil das dortige Kicker-Schönheits-Ideal scheinbar Einheits-Schnitte/Styles/Tattoos vorschreibt, sondern weil dort immer Akteure auflaufen, die nach ein paar guten Liga-Leistungen sofort testspielen müssen.
Sowas wie einen Stamm von Akteuren, der sich bei den großen Klub-Teams dieses Planeten hervortut, gibt es hingegen nicht.
Der aktuelle Kader von Marcello Lippi ist auch legionärsfrei (Beppe Rossi von Villareal hat den Cut nicht geschafft).
Ebenso wie der von England oder Deutschland und fast der von Spanien (da stören nur drei Premier League-Leute die heimatliche Idylle).
Bloß: im Fall von England, Spanien und Deutschland handelt es sich um die drei Ligen, die vorneweg auf dem aufsteigenden Ast hanteln - die italienische Serie A hingegen hat aktuell ein Problem. Und die einzige Ausnahme, der CL-Sieger Inter kommt wiederum praktisch ohne Italiener aus (Kopfstoß-Empfänger Materazzi ist nicht mehr, der Schlingel Balotelli noch nicht dabei, beides hat seine guten Gründe).
Das Legionärs-Kontingent abseits von Rossi: Matteo Ferrari bei Besiktas, Andrea Barzagli bei Wolfsburg, Alberto Aquliani bei Liverpool, Tormann Cudicini bei Tottenham, Enzo Maresca bei Olympiakos usw.
Soll heißen: eine Team-Mischung aus Spielern von Juve, Milan, Napoli, der Samp, Genoa, Bari, Udine, Fiorentina und Cagliari wäre zwar für die allermeisten WM-Teilnehmer eine gute Visitkarte - für den Weltmeister ist das allerdings erbärmlich. Man hat praktisch keinen Spieler im Ausland untergebracht - während die Liga daheim niveautechnisch hinterherzockelt.
Plus/Minus-Wertung
Man kocht also im eigenen Saft. Die Weltmeister von 06, die damals noch recht frisch waren, ranzen schon ein wenig; und nachgekommen ist eigentlich so gut wie nichts. Die "Talente" der Generation Chiellini/Montolivio sind auch schon resche 25aufwärts.
Zudem ist die zentrale Achse Buffon-Cannavaro-Pirlo-del Piero/Totti/Toni zerbröselt. Die anstrengenden Offensiv-Diven sind nicht mehr im Team, Andrea Pirlo, das Hirn des Weltmeister-Teams ist noch verletzt (und er hatte eine grauenhafte Saison), Canavaro geht nach der WM ins Altherren-Ausgedinge zu Al Ahli nach Dubai. Und Buffon ist zwar immer noch Weltklasse, war aber die Saison über (wissen wir wegen Manninger) immer wieder verletzt.
Was Zambrotta oder Camoranesi außen noch leisten können, steht in den Sternen. Ob sie soviel besser sind als die aussortierten Grosso oder Perrotta sei dahingestellt.
Andererseits: jede italienische Abwehr ist technisch und taktisch so gut ausgebildet, dass sie jedem Team der Welt standhalten kann. Daniele de Rossi ist ein Stabilitäts-Garant im Mittelfeld. Und im Angriff macht die Variationsbreite der aufgebotenen Stürmer vieles möglich.
In der Vorbereitung hat sich bislang eher das negative Gesicht dieser recht verunsicherten Mannschaft gezeigt. Ihr Glück ist die diffuse Ausgewogenheit der Vorrunden-Gruppe. Da kann man durchschwimmen und sich gerade einmal so nach vorne mogeln. Und dann, nachdem sich ein Team geformt und gefunden hätte, wäre wieder was möglich.
Ich will so recht daran aber nicht glauben.
Unbekanntes Paraguay
Der südamerikanische Binnenstaat ist seit 1998 ununterbochen für die WM qualifiziert, hat sich mitterweile als die dritte Kraft hinter den zwei großen (Brasil, Argentina) etalbliert und Uruguay oder Kolumbien (deren Nationalteam von den Drogenbaronen aufgepimpt und dann kurz darauf wieder zerstört wurde) abgehängt.
Trotzdem: sie sind unaufällig, fast durchsichtig.
Und diesmal wurden sie schon im Vorfeld von den viel auffälligeren Chilenen klar abgehängt.
Von der goldenen Generation, die es zweimal ins Achtelfinale geschafft hat, sind immerhin noch Denis Caniza, der Kapitän, Caceres und Bonet übrig. Die anderen sitzen in der Hall of Fame: Ayala und Arce, Acuna und Struway, Paredes und Gamarra, und vor allem Tormann-Genie Jose Luis Chilavert.
Im Gegensatz zu der eher schwachen und defensiven Performance mit der sich Anibal Ruiz vor vier Jahren aus dem Turnier verabschiedet hat, wird Gerardo "Tata" Martino die Sache offensiver angehen. Das hat vor allem den Grund in der exquisit besetzten Offensive seines Kaders.
Zu Nelson Valdez (zuletzt super in Dortmund) und Roque Santa Cruz (dem Roque von "Ich, Roque" von den Sportfreunden Stiller, spielt jetzt bei Manchester City) sind noch zwei fabulöse weitere Angreifer dazugekommen: Oscar Cardozo, die vorderste Spitze von Benifa Lissabon. Und dann auch noch der jüngst eingebürgerte Lucas Barrios (ebenfalls in Dortmund aktiv), ein Killer im wahrsten Wortsinn.
Plus/Minus-Wertung
Deshalb ist mit einem 4-3-3 zu rechnen, wenn Valdez sein zuletzt erprobtes Können als hängende Spitze anwendet, sind da mehrere taktische Varianten möglich.
Die Abwehr ist im Zentrum mit Caceres-Caniza (sofern ihn nicht da Silva ersetzt) überstabil - bleibt als Knackpunkt die Mittelfeld-Besetzung.
Paraguays Kader ist, was die Mischung betrifft, der interessanteste aus Südamerika. Im Gegensatz zu den reinen oder zumindest mehrheitliche Legionärs-Kadern von Brasilien, Argentinien, Uruguay und Chile haben wir hier eine Mixtur aus Europa und Süd/Mittelamerika: etliche Paraguayos sind in Mexico, Argentinien oder gar Ecuador (Vera von Quito) unterwegs, Tormann Bobadilla spielt gar in Medellin.
Das ist ein Hinweis auf eine funktionierende Vernetzung, gute Kontakte der Spieler mit Verband und Coaches. Bei einer Einwohnerzahl, die hinter der Österreichs zurückbleibt, ist eine solche Pflege aller Akteure wichtig.
Der immer wieder hervorgehobene gute Teamspirit der Nationalmannschaft könnte darin seine Ursache haben. Widmen werden sie eventuelle Siege wohl ihrem Stürmer-Kollegen Salvador Cabanas, ihrem Top-Torschützen in der Qualifikation, der seit Jänner dieses Jahres mit einer Kugel im Kopf lebt, die er sich im Laufe eines Überfalls in einer Bar einfing, was ein Ende der WM-Träume bedeutete.
Unbekannter Nachbar Slowakei
Was wissen wir?
Dusan Svento, der beste linke Offensivspieler der österreichischen Bundesliga, hat es nicht in den Kader geschafft. Also muss das Team von Vladimir Weiss da unheimlich gut besetzt sein.
Aus der slowakischen Liga sind zwei Vertreter an Bord, aus der benachbarten tschechischen einer.
Der Bogen der Legionäre reicht von Liverpool (Skrtel) und Napoli (Hamsik) bis Mainz, Cesena oder der rumänischen Provinz.
Weiss hat seinen Sohn, der noch dazu den gleichen Namen trägt, nominiert - als Talent bei Man City wohl auch zurecht.
Qualifiziert hat man sich gegen den arroganten Nachbarn, die Tschechische Republik, die abgeschwachten Polen und auch Slowenien ist hinter ihnen gelandet - obwohl man genau gegen diesen Gegner die beiden einzigen Niederlagen eingefahren hat.
Das ist nicht viel für ein Land, dessen Hauptstadt eine Auto-Stunde von Wien entfernt vor sich hinbrummt und -boomt.
Und es ist ein Fanal, ein überdeutliches Zeichen an wehleidige Abschotter, populistische Heimatbesinger und Menschen, die Angst vor Neuem und Anderem haben; also an Österreich und sein fußballerisches Gemurkse und Gewinsel.
Plus/Minus-Wertung
Dass sich die Slowakei so weit bringen konnte, verdankt sie der Fähigkeit einiger Proponenten das Fremde, das Außen-Draußen reinzulassen und davon zu profitieren, die andere Spielkultur nicht sofort als böse/blöd/brauchmaned abzutun, sondern zu lernen.
Das hängt mit dem geopolitischen Status der jungen Republik zusammen: man ist es gewohnt nach Prag zu schauen, und in weiterer Folge ist es auch nicht der Osten, dessen Vormundschaft man sich überlange Jahre unterwerfen musste, sondern das westliche Ausland, auf das man fixiert ist. England oder Deutschland sind die gelobten Fußball-Ligen, für die die jungen Slowaken hintrainieren. Und weil sie, noch in den alten tschechoslowakischen Roots gefangen, eine Export-Tradition haben, weil sowohl Coaches als auch Spieler europaweit populär sind (gut ausgebildet, karrierebewusst) kriegt man in Bratislava dann auch eine brauchbare Nationalmannschaft zusammen.
Die jetzt, angesichts der erstmalige WM-Teilnahme durchaus Bammel hat. Aus dem an sich fixen 4-4-2 wurde zuletzt ein sehr vorsichtiges 4-2-3-1. Dass zuletzt Mittelfeld-Oldie Miro Karhan ausgefallen ist, tut dem Ego auch nicht gut.
Viel wird von Hamisk, Miroslav Stoch (links) und dem Trainersohn abhängen, die Robert Vittek und/oder Stani Sestak füttern müssen. Noch mehr davon, ob neben Pekarik und Skrtel auch der Rest der Abwehr überzeugen kann. Tormann Jan Mucha gilt als Tipp für herausragende Performances.
Völlig unbekanntes Neuseeland
Leider hat die FIFA aufgrund des strikten Ablaufs auch der Match-Vorbereitung seit jeher einen Riegel vor Rituale wie den Haka vorgeschoben.
Andererseits wäre es ein wenig lächerlich und anmaßend, wenn die All Whites, die meist in blütenweißen Jerseys antretenden Fußball-Zwerge den Kriegstanz der All Blacks, des weltbesten Rugby-Teams vollführen würden.
Denn die im Gegensatz zum Rugby weitgehend ohne seine Maori-Minorität antretende Soccer-Abteilung ist der deutlichste Außenseiter des Turniers, das zeigte auch die glückliche Relegation gegen Bahrein. Selbst Nordkorea traut man, mit einem Blick auf die Geschichte, mehr zu.
Was den Blick dann weniger streng werden lässt und gute Leistungen im Vorfeld der WM umso überraschender aufnimmt.
Mit einem gewagten 3-4-3 konnte man etwa Serbien in einem Testspiel in Klagenfurt in Schach halten und sogar besiegen.
Die Auffälligsten dabei: Libero Nelson (Blackburn), der wuchtige Shane Smeltz, Chris Killen von M'boro und Rory Fallon von Plymouth. Dahinter ist mit Chris Wood (Westbrom) noch ein Talent im Talon.
Österreichs Neuseeland-Legionär Michael Winsauer, der in der NZ-Liga bei Team Wellington spielt, war im übrigen Trainings-Gast beim in Österreich angesiedelten Camp der All Whites in der Steiermark. Sein Team ist nicht mit dem einzigen Profi-Mannschaft der Doppel-Insel, den Wellington Phoenix zu verwechseln, die als Gast in der australischen A-League mitspielen.
Das nur, um die ozeanischen Macht-Verhältnisse zu demonstrieren.
Gruppen-Fazit
Das Unbekannte verleitet zu einer Einschätzung, die nach WM-Erfahrung abgestuft ist: da hieße Italien vor Paraguay vor Slowakei vor Neuseeland. Und klingt nicht so unrealistisch.