Erstellt am: 6. 6. 2010 - 18:33 Uhr
WM-Journal '10-6.
Seit 1. Juni erscheint dieses WM-Journal zum Turnier in Südafrika - in den ersten Tagen mit einer Vorstellung der einzelnen Vorrunden-Gruppen.
Das WM-Journal gibt es auch als Podcast.
Hier der Link zur kompletten offiziellen Kader-Liste der FIFA,
hier der weitreichende Überblick bei transfermarkt.at.
Hier die kompletten Kader der Gruppe auf einen Blick.
Und das ist die Gruppe E-Einschätzung der werten Sport-Kollegen.
Immer eine Empfehlung wert: der WM-Auftritt des Guardian.
Die Teilnehmer der Gruppe E haben einen guten Klang, der Flow, der Sound, das passt.
Von den Holländern erwartet man offensiven Hurra-Fußball, von den Dänen Dynamit, von Kamerun ausgefuchste technische Tricks und von Japan todesmutige Überraschungen.
Wird man bekommen, das eine oder andere davon.
Trotzdem denke ich, dass man die Erwartungen, auch, was den Verlauf des Turniers nach der Gruppenphase betrifft, nicht zu hoch schrauben sollte.
Denn: allen vier Teams ist eines gemeinsam; etwas, was in Zeiten der ökonomischen Krise andauernd passiert; etwas, was etwa den österreichischen EM-Stadien widerfahren ist - der Rückbau. Die bewusst gesetzte Zurücknahme von zu hohen und großen Investitionen, Erwartungen oder bereits getätigten Ausgaben.
Denn vor den Auswirkungen dessen was in der wirklichen Welt draußen passiert, wird jeder betroffen, auch die Teilnehmer dieses scheinbar abgehobenen Zirkus.
Der ewige Eigentlich-Weltmeister, die Niederlande...
... kann es, wie immer seit 1974 (Teilnahme vorausgesetzt) schaffen und den Titel holen.
Klar, warum nicht?
Eine der wichtigsten Zutaten wird dort nämlich bereits der Muttermilch zugesetzt: Der holländische Spieler ist in ein exzellent entwickeltes System hineingeboren, er hat Taktik im Blut und den Master im Fach Strategie im Spielintelligenz-Zentrum des Gehirns implantiert.
Seit Anfang der 70er "Total Voetbal" das bis dorthin bedeutungsarme niederländische Spiel auf die Weltkarte gesetzt und systematisch den Globus erobert, und allerspätensens, seit Johan Cruyff, der Messias, dieses Wissen nach Spanien, zum FC Barcelona gebracht hat, agiert die Spitze des Weltfußballs nach diesem Muster.
Und in den holländischen Fußballschulen ist es daheim, das Original - kein Pokal (außer dem EM-Pott von '88), sondern das Herz, die Seele.
Zurückgebaut hat man in Oranje-Land nur die Ansprüche, mit denen man alle zwei Jahre seine Mannschaft in ein großes Titelrennen schickt.
Bislang betrachetete man alles, was unter dem Titel rangiert, als Niederlage. Mittlerweile hat sich die niederländische Fußball-Öffentlichkeit, selbst Gottvater Cruyff, mit der Realität arrangiert und nimmt das (Fußball-)Leben wie der Erfinder, England (die in der Frühzeit des Spiels die meisten Maßstäbe setzten): gelassener.
Und deswegen ist diesmal etwas drin, ein Spürchen mehr als zuletzt.
Plus/Minus-Wertung
Das zeigt sich allein am Fall der Verletzung des Ausnahme-Flügels Arjen Robben. Egal ob der Ausnahmespieler jetzt nämlich wirklich ausfällt oder nicht - während die Verletzungen von etwa Drogba, Essien oder Obi Mikel ihre Mannschaften lähmen und in Angststarre versetzen oder die Abwesenheit von Ballack Deutschland im Mark trifft: Wenn Robben nicht spielt, dann läuft dort eben Kuyt an der rechten Flanke herum.
Und es ist, mit Verlaub, fast egal.
Im letzten Test war es das zumindest.
Und da saß etwa auch Van der Vaart, der Held des Boulevards, auf der Bank.
Weil's wurscht ist, weil sich in der Offensive (aktuell spielt man ein gnadenlos nach vorne preschendes 4-2-4) so viel an sensationeller Qualität ums Leiberl balgt, dass jeder ersetzbar ist.
Was auch damit zu tun hat, dass jeder niederländische Klassespieler zumindest zwei Positionen ausfüllen kann - auch das lernt man dort von klein auf.
Weil auch die defensive Mittelfeldzentrale (auch ohne Van Bommel, der für mich immer der erste Kandidat für Rot ist) exzellent besetzt ist und mit Tormann Stekelenburg (nach einem gefühlten Jahrhundert Van der Sar) und dem neuen Rechtsverteidiger Greg van der Wiel großartige Kräfte nachrücken, bleibt die Achillesferse der Elftal die Innenverteidigung: Heitinga-Mathijsen, Boulahrouz-Ooijer, das ist derselbe alte Käse wie vor zwei oder vier Jahren.
Und Kapitän Gio van Bronckhorst links hinten, ja, wir lieben ihn alle, aber: kann er's noch, mit 35?
Es wird also wie immer an Sneijder, Kuyt, Van Persie, Babel, Huntelaar, Affelay und den anderen (nicht Ruud van Nistelrooy, aber den hätte ich fast vergessen, so sehr wird er nicht vermißt) liegen, dafür zu sorgen, dass man ein Tor mehr macht als der Gegner. Wobei, Achtung: Penalties sind auch Tore.
Das mit denen Dänen...
... ist schon komplizierter. Denn da ist der Rückbau fast unmerklich, schleichend passiert.
In den 90ern und bis in die erste Hälfte der Nuller war man gewohnt, eine frisch-fromm-frei-fröhliche Legionärstruppe vorgesetzt zu bekommen, deren Proponenten überall in den großen Ligen für Furore sorgten, und im Nationalteam deshalb einiges zustande brachten - weniger die Europameister von '92, sondern vor allem die mittlerweile endlich auch im Mainstream akzeptierte Supermannschaft von 1986 hat da wirkliche Maßstäbe gesetzt.
Die eigene Liga galt ausschließlich als Produktionsstätte für diese Exportware, in der Ausbildung mischte man das Interessanteste aus den Erfahrungen der Nachbarn (Deutschland, England, Holland) und fuhr gut damit.
Dann war Dänemark zweimal nicht dabei (Euro '08, WM '06), und wer sie wie ich da ein wenig aus den Augen verloren hat, stellt jetzt, nach wieder genauerer Betrachtung, zwei Dinge fest:
Zum einen sind die dänischen Star-Legionäre nur noch Stars zweiter Klasse.
Und zum anderen sind es in vielen Bereichen die genau selben wie vor sechs Jahren.
Beides ist nicht gut.
Plus/Minus-Wertung
Ich bin fast erschrocken, als ich gesehen habe, dass Grönkjaer, Tomasson und Rommedahl wieder dabei sind. Nicht mich falsch verstehen: Das sind grandiose Spieler, aber alle überm Zenit. Mit Nicklas Bendtner ist exakt ein Stürmer, der wirklich eine tragende Rolle spielt, mit dabei.
Im Mittelfeld sieht es ähnlich aus: Daniel Jensen oder Thomas Kahlenberg haben bei ihren Vereinen kaum Einsätze gehabt, Christian Poulsens Zeit ist gefühlt auch irgendwie vorbei, hier machen einzig Chris Eriksen, das Super-Talent von Ajax auf der linken Flanke, den sie schon den neuen Laudrup nennen, und Thomas Enevaldsen, wenigstens ein bißchen Hoffnung. Aber die dürfen in den Tests nur als Ergänzer ran.
Gerade einmal in der Abwehr vor Thomas Sörensen (mittlerweile der einzige Klasse-Keeper weit und breit, auch das war schon einmal wesentlich besser... ) hat der Kader Klasse und Tiefe. Jungstar Simon Kjaer ist zwar noch nicht vollfit, aber Agger, Jacobsen, Kvist, das müsste sich ausgehen.
Dementsprechend vorsichtig ist die aktuelle dänische Spielanlage, die mich zu sehr an ein 4-5-1 erinnert. Die leise Eurphorie, die etwa hier mitschwingt, kann ich nicht mittragen. Auch, weil der Plan B, die italienisch anmutende 4-3-3-Variante, von der Quirligkeit der Offensive abhängt. Und die sehe ich aufgrund der Altersstruktur nicht auf Top-Niveau.
Kommen wir nun zu Kamerun
Bei zwei afrikanischen Teilnehmern habe ich bereits herumgemäkelt, dass sie nach einem halbwegs erfolgreichen Afrika-Cup radikal umgestellt und ihre Philosophie in Frage gestellt, wenn nicht gar schon zerstört haben.
Bei Kamerun war ein großes Umrühren nach dem wahrhaft unrühmlichen Abschneider bei der Afrika-Meisterschaft hingegen bitter nötig. Die Schwächen, vor allem im Mittelfeld, waren unübersehbar und zogen sich durchs gesamte Turnier.
Aber, und jetzt kommt mein Gemäkel von der anderen, der Maschek-Seite: Just das Team von Paul LeGuen zog kaum Konsequenzen.
Ganze fünf Akteure wurden ausgetauscht, von denen außer Linksverteidiger Bedimo und Salzburgs Tchoyi aber keiner wirklich ausführlicher zum Spielen kam.
Man kann dieses Umkrempeln also auch durchaus als Augenauswischerei bezeichnen. Statt Tchoyi ist Nürnbergs Choupo-Moteng einberufen worden (schon witzig, bis auf Boakye darf jeder Stürmer des Fast-Absteigers zur WM fahren...) - sonst bleibt in Mittelfeld und Angriff praktisch alles gleich.
Plus/Minus-Wertung
Für die Stabilisierung der Abwehr wurde hingegen einiges getan, drei neue Leute - Bassong und Assou-Ekotto wurden den französischen Nachwuchs-Teams abspenstig gemacht - geholt.
Die einzige wirklich unkonventionelle Maßnahme ist die Umschulung von Stephane M'Bia von OM, der in den letzten Turnieren als Destabilisator im Mittelfeld reinen Unfug trieb, zum offensiven Außenverteidiger.
Wenn dann noch Urgestein Rigobert Song, der eigentliche Kapitän, seinen Motivations-Platz auf der Bank einnimmt und nicht spielt, dann könnten sich die verheerenden Probleme, die Kamerun hinten hatte, in Wohlgefallen auflösen.
Die wirklichen Troubles lauern aber sowieso vorne.
Da hat Kamerun den richtigen Personal-Mix einfach nicht gefunden. Samuel Eto'o, bei Inter eine taktische Sensationswaffe, nimmt sich als Einzelperson zu wichtig - und im Mittelfeld sind die Positionen vor Alex Song (der immer besser wird und droht, ein wirklich großer Spieler zu werden) allzu Larifari interpretiert, bei Jean Makoun (und ihr alle wisst, wie sehr ich den an sich schätze) angefangen.
Wenn man bedenkt, mit welchem Esprit genau diese Halb- und Flügel-Positionen bei den Kamerun-Teams der letzten Jahre/Jahrzehnte interpretiert wurden, kann man nur von einem geistigen Rückbau sprechen.
Das englische Magazin "Four Four Two" erwähnt eine Gemeinsamkeit der Westafrikanischen Teams, den dringend nötigen "Struggle for Creativity", weil das Mittelfeld, der Aufbau, einfach nicht entspricht.
Das trifft für Ghana, Nigeria, in weiterer Folge die Côte d'Ivoire, und hier eben auch im Fall von Kamerun zu und wird der Knackpunkt für den Erfolg bei dieser WM sein.
Rückbau mit System: Japan
Während dieses Rückbau-Ding im Fall der Holländer auf die Erwartungshaltung bezogen war, im Fall der Dänen die Qualität der Legionäre meint und im eben erörterten Fall von Kamerun das Kreativspiel ansprach, betrifft es bei Japan vor allem die wirtschaftliche Basis hinter dem Sport. Was sich in weiterer Folge auch auf das Team Japan 2010 auswirkt, Globalisierung und die Folgen.
Für die '02er-Heim-WM wurde die bereits davor installierte J-League ordentlich aufgepäppelt, Milliarden in den Aufbau dieses in Nippon nicht sehr heimischen Sports investiert. Mit anständigen Teil-Erfolgen: die Liga lebt, das Nationalteam hat sein Niveau in den letzten Jahren stark gesteigert und dann auch gehalten.
Jetzt, nur zwei Terms später, hat man zurückgebaut.
Die Sponsoren agieren, der Weltwirtschaftskrise geschuldet, zurückhaltender, Firmenteams sind wieder gefragter als die reinen Franchise-Clubs, man hat sich auf einem anständigen Level eingependelt.
Dementsprechend ist auch das Medien-Interesse ein wenig gesunken. Vor allem der Hype um japanische Spieler, die es ins Ausland schaffen, in die großen Ligen, ist abgeflacht. Vor fünf, sieben Jahren war der Wechsel eines Spielers nach England, Schottland oder Deutschland noch ein Grund für TV-Sender, die Spiele dieser Vereine live in Japan zu übertragen.
Etwas, was sich dann auch für die europäischen Clubs rechnete, die dann begannen, japanische Akteure ausschließlich wegen dieser Hypes zu engagieren. Darunter litt die Qualität, die Spieler kamen kaum zum Einsatz, weshalb dann auch weniger Spiele übertragen wurden, weshalb das Geschäfts-Modell wie eine kleine Blase wieder platzte.
Auch Red Bull Salzburg war da mittendrin: Das Engagement der WM-Spieler Alex und Tsune Miyamoto hatte keine sportlichen Gründe, sondern war ein Marketing-Tool, um Red Bull in Japan zu positionieren.
Plus/Minus-Wertung
Damit hat sich's jetzt.
Und siehe da: kaum ein Japaner spielt noch in einer hochwertigen europäischen Liga. Das wiederum ist schlecht für's Niveau der Nationalmannschaft.
Aktuell sind mit Ausnahme von Hasebe von Wolfsburg, Honda von ZSKA, Morimoto von Catania (den angeblich ManU haben möchte) und Matsui von Grenoble alle wieder aus der J-League rekrutiert worden. Allerdings gibt's da auch Rückkehrer wie Nakamura und Inamoto, die ihre gute Zeit in Europa schon hinter sich haben.
Dieser unfreiwillige Rückzug, dieser Rückbau kann sich auf die Dauer nicht gut auf das Niveau auswirken.
Noch zehrt das japanische Team von seinem guten Ruf, seiner guten Organisation auf dem Platz und der Tatsache, dass man sich sicher qualifizieren konnte. Allerdings gegen schwache Gegnerschaft und deutlich hinter Australien.
Coach Takeshi Okada hat vom in Japan unglaublich beliebten Ivica Osim übernommen und gilt als Knofel: '98 ist er mit drei Niederlagen heimgefahren. Ich kann mir vorstellen, dass es zwölf Jahre später ähnlich kommen könnte.
Gruppen-Fazit
Die Niederlande müssen, ebenso wie alle anderen Top-Favoriten der jeweiligen Gruppen, erster werden, um nicht schon im Achtelfinale gegen einen anderen Großen zu kommen. Erst ab dem Viertelfinale ist ehrenhaftes Ausscheiden nämlich sozial akzeptiert.
Welches der anderen Rückbauer-Teams dahinter einlaufen kann?
Das aktuelle Gefühl sagt Dänemark. Morgen sagt es vielleicht aber wieder Kamerun, weil es ein Hund ist, das Gefühl. Allerdings sagt es auch, dass es in anderen Gruppen bessere Teams gibt, die aufgrund zu großer Konkurrenz nicht weiterkommen werden, obwohl sie es weit eher verdienen würden.