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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

5. 6. 2010 - 21:13

WM-Journal '10-5.

Die Gruppen-Previews. "D" wie folgenschwere Entscheidungen.

Seit 1. Juni erscheint dieses WM-Journal zum Turnier in Südafrika - in den ersten Tagen mit einer Vorstellung der einzelnen Vorrunden-Gruppen.

Das WM-Journal gibt es auch als Podcast.

WM 2010: Die Übersicht

Hier der Link zur kompletten offiziellen Kader-Liste der FIFA,
hier der weitreichende Überblick bei transfermarkt.at.

Hier die kompletten Kader der Gruppe auf einen Blick.

Und das ist die Gruppe D-Einschätzung der werten Sport-Kollegen.

Immer eine Empfehlung wert: der WM-Auftritt des Guardian.

Die Gruppe D (D wie Deutschland) ist die erste, bei der es Geraune von wegen "Kein echter Außenseiter" oder "alle auf einem Level, mit den Deutschen ein wenig davor" - immer ein Zeichen für eine Gruppen-Konstellation, bei der viele Erwartungen mitschwingen.

Außerdem schwingt die deutsche Medien-Maschinerie sehr weit rein in die österreichische Wahrnehmung und erzeugt einen Informations-Sog, der sich durchauch auswirkt.

Weswegen von Serbien, Australien und Ghana als Jäger auf die überdeutsche Turniertauglichkeit, vor allem hierzulande, einiges erwartet wird. Dazu kommen dann prächtige Geschichten wie die "Kevin Boateng tritt Ballack nieder!"-Fehde der Deutschen mit Ghana und die Erinnerung an die serbischen Qualifikations-Spiele der Österreicher.

Trotzdem sehe ich eine andere Haupt-Gemeinsamkeit.
Alle Mannschaften haben zuletzt (im Verlauf der Campaign für diese WM) entweder Mutationen durchgemacht oder seltsame, einsame Entscheidungen getroffen, die sich folgenschwer durch das Turnier ziehen können; die Australier schon recht früh, die Ghanesen schon recht spät.
Aber einer nach dem anderen.

... am Ende verliert Deutschland

In Abwandlung des alten Gary Lineker-Spruchs: seit das deutsche Nationalteam dank der Umbauarbeiten von Klinsmann und Löw seine Vergangenheit in die Fotoalben abgeschoben und das, pardon für die deutlichen Worte, arrogante Arschloch-Image abgelegt hat und sich pfiffig, keck und weltoffen präsentiert, ist das Team vorne dabei, zuletzt zweimal Top 3.

Aber: weil die neue Linie sowas wie Mitgefühl und Menschlichkeit beinhaltet, interpretiert die "Bild"/Pocher-Gesellschaft das eher als Niederlage.
Wohingegen hochbescheidene Leistungen wenig guter Jahrgänge (von Derwall, Ribbeck über Vogts bis Völler) aufgrund des in solchen Niederlagen gern hochgehaltenen Stinkefingers der Marke Tiger mit Tattoo-Schreibfehler immer als gefühlter Sieger vom Platz gingen.

Da hat sich ein Nationalteam immer an schwachen und moralisch zweifelhaften Figuren wie Lothar Matthäus orientiert und schwere Debakel als Sieg verkauft.

Bei Klinsmann/Löw werden selbst große Erfolge (und in Relation von Können und Resultat liegen WM-Semifinale und EM-Finale weit über der Reichweite der aktuellen deutschen Qualität) bescheiden und dezent ausgekostet.

Dieser Unterschied zwischen zwei Denkschulen ist eklatant und macht diverse Betonköpfe in Deutschland (Typen, die alles Nicht-Mattäus'sche gleich als "voll schwul" werten) immer noch nervös.

In diesem Dilemma bewegt sich auch Jogi Löw.

Und fällt deshalb wahrscheinlich auch diverse sportlich nicht nachvollziehbare Personal-Entscheidungen. Weniger der vieldiskutierte Verzicht auf Kevin Kuranyi, sondern die plump abgeführte Abschiebung der Mittelfeld-Haudraufs Frings und (dem eben zu WestHam gewechselten) Hitzlsperger könnte ihm jetzt auf den Kopf fallen.

Löw wollte die WM mit der Zentrale Ballack-Schweinsteiger bestreiten. Als ihm nun der Capitano verletzungstechnisch wegbrach, blieb ihm überhaupt nur noch Samy Khedira über.

Sonst hat das DFB-Team (nach dem Ausfall von Rolfes und später Träsch) niemanden mehr auf dieser so wichtigen Position.
Bei einem Einzel-Länderspiel geht sich das aus. Aber bei einem Turnier, wo man 23 Leute braucht, macht sich dann eine Personal-Politik der verbrannten Erde negativ bemerkbar.

Ähnliches gilt für die Torhüter. Auch da hat sich Löw früh festgelegt, die Nicht-Berücksichtigten (von Hildebrand abwärts) als Lulus abgekanzelt und so - nach dem tragischen Tod von Robert Enke und der Verletzung von Rene Adler - nur mit knapper Not seine Leute zusammengekratzt.

Plus/Minus-Wertung

In der Abwehr wirkt sich der Ausfall des fix gesetzten Heiko Westermann insofern aus, als man hier fast nur noch mit eher wenig erfahrenen Burschis operieren kann.

Und vorne operieren gleich drei in einer echten Unform: Klose, Gomez, Podolski stehen neben sich. Wenn Cacau was passiert, bleibt alles an Stefan Kießling hängen, den Löw aus sportlich auch nicht nachvollziehbaren Gründen seit Jahren schneidet, links linken lässt, ja in Constantini-Manier verarscht.

Wie gesagt, diese seltsamen Entscheidungen sind wohl einer neuen Philosophie geschuldet, deren Einhaltung wichtiger sein mag, als das Glück einzelner.

Da aber das Glück einzelner eine Gruppe manchmal zu Höchstleistungen zu bewegen vermag, können diese Entscheidungen auch folgenschwer sein.

Ich werde, wie schon die beiden letzten Turniere, mindestens bis zum Viertelfinale eindeutig Pro-Deutschland sein. Und zwar schon allein deswegen, weil bei einem frühen Scheitern die Betonkopf- und Eisenfresser-Mafia aus dem Bayern-Umfeld wieder ans Ruder kommt und die DFB-Mannschaft wieder in die Untiefen der Marke Derwall-Ribbeck-Vogts-Völler führen wird.

Dort taugte man dann zwar wieder als Lieblingsfeind und Hass-Objekt - ich will von Deutschland aber Fußball sehen; weil der nämlich gut sein kann.

Eins vor, zwei zurück: die Seltsamkeiten von Ghana

Zonalmarking schätzt Ghana als "underrated" ein. Die Systeme passen ja, das aktuelle Personal aber...

Gestern an dieser Stelle habe ich den Kehrtschwenk von Algerien beleuchtet, die sich mit einer 2.0-Offensive quasi mit Gewalt auf ein neues Level hieven wollen.
Im Fall von Ghana sind die folgenschweren Entscheidungen vor dieser WM noch viel komplexer.

Zur Vorgeschichte: Ghana wurde im Vorjahr U20-Weltmeister. Beim Africa Cup im Jänner fielen dann zahllose Stars der Nationalmannschaft (Essien, Appiah, Mensah, Paintsil…) aus und ein Schippel der frischgebackenen Weltmeister sprang ein. Und die junge Mannschaft kam, immerhin, ins Finale, wo man dann der Routine der Ägypter unterlag.
Toll war das.

Nun hatte Coach Miloslav Rajevac für die WM wieder alle Leistungsträger zur Verfügung – und entschloss sich für den (scheinbar) risikolosen Weg. Die jungen Retter bekamen ein „Danke Tschüß!“, die Verletzten und ein paar andere Ältere kamen zurück, und mit Kevin Prince Boateng wurde ein schnell mit der Staatsbürgerschaft ausgerüsteter Deutscher dazugeholt; zum Drüberstreuen und, um den Gruppengegner zu ärgern.

Die Hälfte der Jungstars, unter anderen die im CAN großartig spielenden Opoku und Badu, wurden entsorgt, Inkoom, Adiyiah und die Ayew-Brüder werden allesamt wohl die Bank drücken.

Diese moralisch und sportlich irgendwie komische Entscheidung wäre dann vertretbar, wenn die Spieler, die zurückgekommen sind, auch eine Verbesserung der Qualität nach sich ziehen.

Das ist aber bei weitem nicht der Fall.
Michael Essien, der Leader, hat sich wieder verletzt und fällt wieder aus.
Stephen Appiah, der Kapitän, der nun Essiens Rolle als Zehner einnehmen will, hat seit fast einem Jahr nicht gespielt und lieferte im Test-Match gegen die Niederlande jüngst den Beweis, dass er in dieser Zeit durchsichtig geworden ist – das Match lief völlig an ihm vorbei. Der einstige Abwehr-Chef John Mensah, ein körperlich starker Mann, den sie „The Rock“ nennen, sah im selben Match, nach ähnlich lahmer Saison eher aus wie ein Sandhügerl.
Und ob Paintsil besser sein kann als Inkoom beim Afrika-Cup, darf ich bezweifeln.

Plus/Minus-Wertung

Rajevac, der den Afrika-Cup strategisch so glänzend bestritten, dort die Not zur Tugend umgeschult hatte, stellt aktuell also nach Namen auf, nicht nach Leistung oder Potential.

Das in Angola so glänzend vorgetragene 4-2-3-1 (mit dem in prächtiger Form aufspielenden Asamoah Gyan als vorderster Spitze) sah zuletzt aus wie Brösel-Kuchen. Owusu-Abeyie, der Fudler auf Ronaldos Spuren, Annan und Derek Boateng, selbst Inters Sulley Muntari sahen betreten schlecht aus.

Sie wirkten so wie die selbstgefälligen großen Brüder, die nach dem Sieg ihrer kleinen Brüder auf den Platz kommen und zeigen wollen, wie richtiger Fußball geht, das aber dann nicht zustande kriegen.

Dieses Bully-Gehabe passt irgendwie zur Kevin Prince Boateng-Affäre um den erstaunlich deutschen Aggro-Poser aus Berlin, der sich, weil er zu wenig "Respekt" bekommen habe, beleidigt nach England zurückzog, dort erstaunlich mäßigen Erfolg hatte, noch beleidigter wurde (wieder kein "Respekt") und sich dann der Heimat seines Vaters (der auch der Vater seines Halbbruders Jerome Boateng ist, der in Südafrika für Deutschland spielt, und eben von Man City engagiert wurde) anbot.

Das ist so Bushido, so kackwehleidig, selbstgefällig und affig – das entspricht überhaupt nicht dem ghanesischen Konzept des technisch hochwertigen, schnellen und unaufgeregten Spiels und ebensolchen Charakters.

Bislang hat Rajevac den selbsternannten Prinzen auch nicht eingesetzt. Warum er bei der WM dabei sein muss – auch so eine seltsame und womöglich folgenschwere Entscheidung.

Erstmals korrekt: Serbien

Bis vor wenigen Jahren, so erfuhr man unlängst von ein paar Insidern und Opfern, war das serbische Nationalteam eine Außenstelle der serbischen Liga, was die schlimmen Dinge, die dort abgehen, betrifft: Wettschwindel, Korruption, Schiebereien, Gewalt und Kriminalität.

Man konnte sich seinen Platz im Team oder WM-Kader erkaufen (1 Million Dollar). Bei der letzten WM nominierte der Coach gar seinen Sohn. Und natürlich sprachen auch Politik und Verband bei allen sportlichen Entscheidungen mit.

Seit Radomir Antic, der serbische Trainer-Grandseigneur schlechthin, das Team führt, gilt die Unschuldsvermutung zu Recht. Und aus einer unzufriedenen Talenteschmiede, aus einem Haufen guter Individualisten wurde endlich das, was wohl nicht nur ich seit dem Beginn des Zerfalls von Jugoslawien (Anfang der 90er) so stark vermisse: die Wiederkehr der grandiosen jugoslawischen Fußball-Schule.

Nicht bös' sein, Slowenen, Kroaten, Bosnier und andere: aber das sehe ich aktuell letztlich nur beim serbischen Team.

Plus/Minus-Wertung

Gut, wir hatten die Chance, dieser Mannschaft zweimal unter Wettbewerbs-Bedingungen extrem genau auf die Füße zu schauen – und waren auch aufmerksam, wenn sie sich dann gegen andere, wie etwa die Franzosen durchsetzten. Und das hatte Klasse, hohe Klasse, fast schon Superklasse.

Noch reicht es nicht an die großen YU-Teams der 80er und Anfangs-90er heran, aber mit Tormann Stojkovic, Ivanovic von Chelsea, Vidic von Man U, Milan Jovanovic, Milijas, dem seltsamen Pantelic, dem langen Zigic und vielen anderen kommt man diesem Ideal bald nahe. Denn selbst die, die nicht bei Extra-Klasse-Vereinen spielen, sind Leistungsträger ihrer Teams. Und das zählt.

Da liegt ganz schön Kraft in der Ruhe dieses Aufbaus.
Und die Philosophie, das System ist seit Jahren klar, vorgegeben und verinnerlicht. Da hängt man nicht vom alternden Kapitän Stankovic ab.
Denn: die Mischung, was das Alter betrifft, stimmt, die Nachrücker aus der heimischen Liga machen Druck (und verkaufen sich Jahr für Jahr quasi von selber ins begierig auf solch gut ausgebildetes Talent wartende Top-Ausland) und bis auf Dragutinovic von Sevilla (verletzt) sind auch alle an Bord.

Serbien kann sich, nach der folgenschweren Entscheidung, die Nationalmannschaft wieder unter serösen Bedingungen antreten zu lassen, nur selber schlagen.

Erstmals asiatisch: Australien

Die folgenschwere Entscheidung der Aussies von Down Under war die Versetzung, um die sie vor der abgelaufenen WM-Qualifikation ersucht haben. Das Reich OZ spielt jetzt nämlich nicht mehr in der Ozeanien-Gruppe um das Ticket, sondern gehört zu Asien.

Das ist total verrückt und völlig absurd.

Das wäre so, als würden die USA den Antrag stellen, aus der Nord/Mittel-Amerika-Föderation austreten und in die Südamerika-Föderation eintreten zu dürfen.
Geopolitisch ist das grotesk.
Es gibt auch, anders als im bis dato einzigen Ausnahme-Fall von Israel (die spielen, weil sie in Asien, vor allem bei den arabischen Gegnern, kein Spiel bekommen würden, in Europa mit) keinen sportpolitisch schlagenden Grund.
Warum die FIFA das genehmigte - keine Ahnung.

Der australische Verband wollte zweierlei: mehr und bessere kompetitive Spiel-Praxis (denn immer gegen Fiji, Samoa und dann final gegen Neuseeland, das ist tatsächlich nicht gerade fördernd und fordernd) und dann auch der ewigen Relegation zu entkommen. Dem ozeanischen Verband steht nämlich nur ein halber WM-Platz zu, zuletzt ging's dann immer gegen einen süd- oder nord/mittelamerikanischen Vertreter – und da stehen die Chancen gut, einen echt bösen Brocken zu bekommen.

In der Asien-Quali können sich vier Teams direkt durchsetzen – und Australien gelang das durchaus spielerisch.

Aber auch dort ist das Niveau nicht allzu dicht. Es gibt vielleicht acht bis zehn asiatische Fußball-Nationen, die echte Gradmesser sind. Im Vergleich zum ozeanischen Inselhupfen natürlich ein Fortschritt.

Treppenwitz am Rande: just in dem Moment, wo Australien der Relegations-Falle entgangen ist, drehte die FIFA die kontinentale Qualifikation um – der Ozeanien-Meister muss jetzt gegen den Asien-Fünften antreten (es hätte also auch zu einem Duell Australien – Neuseeland kommen können).

Plus/Minus-Wertung

Das alles soll zeigen, woran es hakt im an sich ganz gut aufgestellten australischen Fußball: man ist zu weit außen draußen, um sich im ständigen Kräftemessen kontinuierlich zu verbessern.
Und das wäre nötig.
Denn so stagniert das Team von Pim Verbeek, dem Ex-Assi von Hiddink und Advocaat.
Welcher der Spieler ist denn besser als 2006 (wo sie eine durchaus tolle WM spielten)? Schwarzer, Neill, Moore, Chipperfield, Emerton, Culina, Grella, Bresciano, Kewell, Cahill, Kennedy... alle gut, aber alle eher über dem Zenit- alte Säcke hintendrin, und auch vorne eine Ü30.

Australiens Glück ist das Wetter: es ist ja nicht heiß in Südafrika, man kennt das Klima, es wird einen nicht fordern. Das schön-vorsichtige 4-2-3-1 wird für zusätzliche Bedächtigkeit sorgen.
Es sollte halt den Gegner einschläfern – ich fürchte, dass das eher aufs eigene Team zutreffen wird.

Gruppen-Fazit

Deutschland muss weiterkommen, sonst droht der Matthäusismus. Und das wäre dann eine wirklich folgenschwere Entscheidung.

Serbien sollte weiterkommen, auch, weil das zur Normalisierung beiträgt und den Weg in die EU ebnen könnte.

Ghana hat es, fürchte ich, schon mit der Nominierung vergeigt.
Und Australien ist zu alt. Und irgendwie zu asiatisch.