Erstellt am: 5. 6. 2010 - 18:55 Uhr
Alles ist Körper
Wenn man dem alten Spruch glauben mag, Festivals wie etwa das All Tomorrow's Parties in England oder das Bad Bonn Kilbi in der Schweiz seien Festivals für Menschen, die eigentlich keine Festivals mögen, liebevoll und geschmackssicher kuratiert, Schlafen in echten Betten, dann ist, im Umkehrschluss gedacht, das Urban Art Forms Festival in Wiesen ein Festival für Menschen, die Festivals mögen. You get the real deal: Die Extase, den Matsch, die komplette Dröhung, endlose Party, den Dreck, die Gaukelei und die bunten Hüte.

Philipp L'heritier

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Der Freitag beginnt recht entspannt, die Sonne ist auch gekommen, ebenso wie gestählte nackte Oberkörper, Tribal-Tattoos, Slacker, Dreads, gezupfte Augenbrauen, bunte Basecaps, Neon-Hoodies und - das wichtigste Accessoire - die Sonnenbrille in noch nie gesehenen Farben. Herbeigefacebookte Grabenkämpfe zwischen etwaigen unterschiedlichen musikalischen Lagern finden hier kaum statt. Das Urban Art Forms will nicht mehr sein, als eine große Party, Selbstauslöschung im Schatten der Bassdrum. Is' eh alles eins, one nation under one groove. Die Gruppe Parov Stelar kann am späten Nachmittag mit ihrem Brückenschlag von Jazz nach Tanzmusik das Publikum schon gut aufwärmen, ihr Auftritt wird mit Abstand die subtilste Darbietung des ganzen Tages bleiben.

Philipp L'heritier

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Der eigentlich sehr gute Berliner DJ Len Faki, dessen auch sehr gute fürs Berghain gefertigte Mix-CD nebenbei empfohlen sein soll, weiß, wo er ist, auf einem Festival nämlich, und ballert also schon um sechs Uhr abends - die Sonne scheint noch - so beherzt ins Publikum, als wäre es sechs Uhr morgens. Im Berghain. Die Menschen danken es ihm, auf Subtiltitäten hat hier keiner gewartet. Kleidungstechnisch ist der vor 5 Jahren von Ed Banger erfundene Nu-Rave-Style überraschend stark vertreten, bunte, bunte T-Shirts in So-Me-Ästhetik, grelle Hoodies und ja, Wayfarer-Brillen, gefälscht oder echt, in auch ganz Bunt. Alle können sich auf die Vereinbarung einlassen, jetzt eine gute Zeit zu haben, skinny Jeans und Cargo-Pants werden Schwestern. Und droben im VIP-Bereich, da haben gerade eine junges Volksgarten-Model und ihr Freund, schick und adrett gekleidet, schon ihre nackten Ärsche über den Balkon hinweg ins unten tanzende Volk gereckt. Halb 7.

Philipp L'heritier

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Sehr gut gebucht, wenn jetzt auch nicht besonders exklusiv oder überraschend, ist die Red Bull Stage, die auf Grund von Regen und Schlamm drastisch verkleinert werden musste, und jetzt eher einem begehbaren Kleiderschrank im Dschungel gleicht denn einer "Location". Vornehmlich heimische Acts gibt's da zu hören: Evirgen, Clara Moto, Patrick Pulsinger, Ogris Debris. Hang-Out des Jahres.

Philipp L'heritier

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Auch an House-Legende Armand van Helden ist die Gegenwart nicht unerhört vorbeigeschritten. Was ein bisschen schade ist. Anstatt eines geschmackvoll weichgezeichneten Schlafzimmer-House-Sets mit ordentlich Cheese-Faktor gibt's zunächst krawallig hampelnde Hauruck-Sounds mit ein bisschen Fidget hier, und - es muss heutzutage sein - kleinen Baile-Funk-Anleihen da. Das funktioniert logischerweise bestens,und wer sein Set mit einem Loop aus The Raptures "House Of Jealous Lovers" beginnt, kann ja eigentlich fast nur gewinnen. Das Set von Armand van Helden gestaltet sich jedoch als außerordentlich vielseitig und gleitet immer mehr Richtung Disco, auch eigene Hits dürfen nicht fehlen: "I Want Your Soul" und - hier wird vom Publikum auch schon gut mitgegröhlt - der Hit mit Dizzee Rascal: "BONKERS!" Einmal "Song 2" von Blur - "Woohoo!" geht immer - , bei van Helden sind Triumph und Schande Nachbarn, guter Typ.

Philipp L'heritier

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Das überzeugendste Set des Abends kommt von Digitalism. Zwar boltzen die zwei bezaubernden Nu-Rave-Boys aus Hamburg auch forscher, als man das von ihnen erwarten würde, bei ihnen bleibt aber dennoch immer Platz für Aufbrechungen und Tempodrosselung, hier wird man nicht konstant mit dem Fleischhammer massiert. Popmomente inklusive, die sichere Variante: Daft Punk, The Prodigy, "Outta Space" geht immer, eigene Hits und kurz - Blur "Song 2".
Der auf Facebook angekündigte Flashmob zur Bestrafung David Guettas findet glücklicherweise nicht statt. Den französischen Großraumdisco-König Guetta ins Programm zu holen, ist keine unerhörte Frechheit, angesichts derer die Elekktro-People beleidigt Schnute ziehen müssen, sondern bloß eine weitere Manifestation der Tatsache, dass "Künstlerische Linie" nicht die Top-Priorität des Urban Art Forms Festivals darstellt. Wenngleich mit Guetta das Fass durchaus überspannt ist, man soll es akzeptieren: An der vordersten Abrisskante der Avantgarde ist immer schon anderswo geforscht worden - mit Ausnahme der wahrlich atemberaubenden Visuals, die während des gesamten Festivals über gob geschätzt 3000 Quadratmeter LED-Wand geschickt, nein, geschockt werden.
Tatsächlich ist David Guetta Produzent von leidlich erträglichen Charts-Hits und - zumindest an diesem Tag - kein guter DJ. Zu einem Großteil gibt's freilich eigene Hits zu hören, House-Geschwurbel, The Prodigy, "Smack My Bitch Up" geht immer, und Hits von vorgestern: Benni Benassi mit "Satisfaction". Das will alles nicht so recht zusammenpassen, und selbst die härtesten Fans scheinen nicht ganz so zufrieden zu sein, wenn Guetta seine eigenen Songs mitunter zu Techno-Imitationen verhackstückt. Wundervollst ist der Vibe dennoch, an den Rändern kann man locker tänzeln und sich - in diesem Zusammenhang eine Perle - auf das von Guetta produzierte "I Got a Feeling" von den Black Eyed Peas freuen. Goße Poetin Fergie: Tonight's Gonna Be A Good, Good Night. Von Kampfhandlungen zwischen Hardcore-Guetta-Jüngern und der Underground-Guerilla ist nichts überliefert. Die Weltkrise kann vertagt werden und Boys Noize spielt dann Musik, die so klingt wie er heißt. Kawumms.

Philipp L'heritier
Heute ab 21 Uhr: FM4 live vom Urban Artforms

Philipp L'heritier
Nun weiß man ja, dass das Urban Artforms kein Pavillon in Kassel ist, sondern ein Zelt in Wiesen, und, ja, die Party funktioniert ausgesprochen gut, die Menschen sind nett und gar nicht so kaputt,wie man das vielleicht immer zu hören bekommt, und die Stimmung tatsächlich prächtig und gleicht gar nicht so den immer wieder versprochenen Kriegszuständen mit Kanonenuntermalung, aber: Muss sich letztlich in der Programmierung so ziemlich alles auf den alles nivellierenden Knallfaktor zuspitzen? Hauptsache, der Name ist groß, und es kracht und spritzt irgendwie. Wieviele Acts und DJs im Techno- und House-Bereich gäbe es zu buchen! DJs, die wissen, wie man auch eine große Menschenmenge mit teils mikadofingrig fragilen Sets nuancenreich zum Tanzen und zum Schreien und zum Komplettausflippen bringen kann. Wie oft - wie oft? - kann man - nichts gegen diese Acts an sich (Platzhalter) - Digitalism und Moonbootica buchen?
Heute nicht verpassen: Moonbootica.

Philipp L'heritier

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