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Rainer Sigl

Spiel, Kultur, Pop im Assoziationsblaster.

12. 6. 2010 - 08:10

Nothing is true

In "Alpha Protocol" werden Spieler unsanft mitten in die Weltverschwörung geworfen.

"Just because you're paranoid, doesn't mean they're not after you" - Joseph Heller/Kurt Cobain

Das Lexikon der Verschwörungstheorien, Robert Anton Wilson

Piper

"Im September 1996 ergab eine telefonische Umfrage unter 800 erwachsenen Amerikanern, dass 74 Prozent glauben, die US-Regierung sei regelmäßig in geheime und verschwörersiche Aktivitäten verstrickt. ... Das heißt, dass inzwischen ganz normale Leute etwas glauben, was vor hundert Jahren nur erbitterte Linksradikale behauptet haben." Hätte Robert Anton Wilson sein 1998 erschienenes und höchst lesenswertes "Lexikon der Verschwörungstheorien", aus dessen Einleitung obiger Auszug stammt, nur wenige Jahre später auf den Markt gebracht, wären die Zahlen vermutlich noch eindrucksvoller gewesen. Heute, neun Jahre nach 9/11, ist die Verschwörungstheorie als politisches Welterklärungsmodell - nicht nur bei Linken - endgültig im Mainstream angelangt - wenn schon nicht in den offiziellen Nachrichten, dann zumindest in der Popkultur.

Militärisch-industrieller Pop-Komplex

Best of Weltverschwörung, literarisch:

Robert Anton Wilson: "Das Lexikon der Verschwörungstheorien". Piper 2002.

Umberto Eco: "Das Foucaultsche Pendel". dtv 1992.

Grant Morrison: "The Invisibles". 1994-2000.

Das alte Gut-Böse-Denken des Kalten Krieges ist denn auch in der Unterhaltungsindustrie einer verunsicherten Paranoia gewichen. Selbst in sonst nicht subversiven Gedankenguts verdächtigen Haudrauf-Serien wie "24" stellen sich regelmäßig nicht düstere Mullahs, sondern geldgeile US-Geschäftsmänner ohne Moral oder gar mit ebendiesen konspirierende höchste Politiker bis zum Präsidentenamt als drahtziehende Bösewichter heraus. Dass man der Politik und vor allem dem amerikanischen "military industrial complex" und seinen privatisierten Armeen buchstäblich alles zutraut, dürfte wohl das nachhaltigste Erbe der Ära Bush darstellen.

Ein Erbe, das sich auch im Medium Spiel deutlich zeigt, in dem klare Feindbilder sonst nicht rar sind. Während etwa in der "Splinter Cell"-Reihe Sam Fisher vom 2002 noch fahnentreuen NSA-Agenten 2006 der titelgebende "Double Agent" wurde und sich der Spieler im aktuellen "Splinter Cell: Conviction" sogar gegen den verschwörerischen Wust aus Geheimdiensten, Militär und Industriellen stellen muss, stellte das kontroversielle "Modern Warfare 2" mit vielfach kritisiertem Zynismus nicht nur in der Flughafenszene eine "False Flag"-Operation als Handwerkszeug internationaler Geheimdienstarbeit zur Schau. Im gesellschaftlichen Gradmesser der Popkultur weiß man eben nicht erst seit dem neuen, zeitgemäß "harten" Bond, dass Spionage und Geheimdienstoperationen nicht mehr so recht zur Romantik taugen.

Spione wie wir

"Alpha Protocol", dem neuen Spiel der Rollenspielmacher Obsidian ("Neverwinter Nights 2", "Knights of the Old Republic 2" und in Kürze "Fallout 3: New Vegas"), gelingt nun in ebendiesem Setting aus Geheimdiensten, Militär und Weltverschwörungen ein recht beeindruckendes Kunststück: Der Spieler muss sich als frischer Rekrut des supergeheimen US-Geheimdienstes Alpha Protocol in diesem Netz aus Intrigen, Politik und Lügen nicht nur behaupten, sondern er muss es auch selbst durchschauen. Oder auch nicht.

Man muss allerdings schon ein bisschen genauer hinsehen, um dem angeblich ersten "Espionage RPG" gerecht zu werden. Nach der medial geschürten Vorfreude überwiegen nämlich als erster Eindruck einmal Schock und Ärger. "Alpha Protocol" ist auf den ersten Blick nicht die erhoffte perfekte Symbiose aus RPG und Action, sondern ein kaputtes Spiel - mit technisch fragwürdigen, simplistischen Actioneinlagen, die keinem Vergleich mit ausgefeilten Titeln wie "Splinter Cell" standhalten, mit frustrierenden, langweiligen Minispielen, mit einer Hauptfigur, die jedem Klischee des unsympathischen Amerikaners gerecht wird, und einem Interface, das oft für Kopfschütteln sorgt. Die Messlatte liegt hoch im gerade so aktuellen Genre des RPG-Action-Hybrids: "Mass Effect 2" konnte hier mit einer Poliertheit aufwarten, die "Alpha Protocol" schmerzlich vermissen lässt.

Sega/Obsidian

Tatsächlich dauert es einige Stunden, bis klar wird, dass man wohl einem Missverständnis aufgesessen ist und was tatsächlich im Endeffekt "Alpha Protocol" ausmacht. Wie in "Mass Effect 2" führen wir unzählige Konversationen mit Freunden und Gegnern, doch im Vergleich zeigt sich, dass "Alpha Protocol" hier in Sachen Story und Komplexität die Weltraumoper klar überflügelt: Die Fronten sind unklar, Gut und Böse nicht eindeutig erkennbar - der Spieler muss sich tatsächlich selbst entscheiden, wem er vertraut, mit allen möglichen Konsequenzen. Immer wieder blitzt dabei der augenzwinkernde Verweis auf die reale Welt auf - wenn etwa in abgefangenen Emails US-Behörden damit prahlen, dass sie dank der Terroristen nun endlich alle abhören dürfen. Und auch der böse Kriegstreiberkonzern des Spiels, Halbech, teilt mit dem real existierenden Konzern Halliburton mehr als nur einige Buchstaben.

Und so bahnen wir uns einen Weg durch die Vielzahl an Entscheidungen, die wir unter Zeitdruck in den Gesprächen intuitiv gefällt haben: Können wir dem russischen Waffenschieber wirklich vertrauen? Sollen wir den angeblich so bösen saudischen Terroristenführer einfach exekutieren oder verschonen? Belügen wir unseren Boss dreist oder liefern wir jemand anderen ans Messer? Und natürlich: Retten wir das Mädchen oder entschärfen wir die Bombe? "Alpha Protocol" stellt den Spieler vor eine beachtliche Anzahl von Entscheidungen, deren Konsequenzen uns stets später noch vorbildlich in die Story eingebettet vor Augen geführt werden. So hat man tatsächlich das Gefühl, in einer komplexen Welt zu agieren, in der vom simplen "Gut-Böse"-Schema etwa eines "Fable" angenehm wenig zu bemerken ist.

Sega/Obsidian

"Choose your own adventure"

"Alpha Protocol" ist in diesem Sinne viel mehr "echtes" Rollenspiel als "Mass Effect 2" geworden - nicht wegen tabellenlastiger Charakterentwicklung, sondern weil es verschlungene Pfade durch sein spannendes Story-Gewirr aus augenzwinkernden "James Bond"-Klischees und andeutungsreichem Weltverschwörungspop anlegt, in dem man seinen eigenen Wünschen folgen darf. An der Hand genommen wird man dabei nicht: Unter Umständen stellt sich das eigene Handeln im Nachhinein als Fehler heraus, Freunde üben Verrat oder sterben. Verschiedene mögliche Enden und versäumte Chancen machen ein mehrmaliges Durchspielen hier auf jeden Fall abwechslungsreich.

"Alpha Protocol" ist für PS3, Xbox360 und PC Windows erschienen. PC-Agenten müssen sich allerdings auf technische Macken und eine für Joypad optimierte Bedienung einstellen.

Wenn man sich tief genug in die Verschwörung verstrickt hat, noch rätselt, ob man nicht mit anderem Verhalten besser abgeschnitten hätte oder ob man nicht vielleicht gar den falschen Informanten bedingungslos vertraut hat, sind auch die zu Beginn noch so störenden technischen Mängel zur Nebensache geworden. Insofern liegt auch der Vergleich zum anderen großen Verschwörungs-Thriller im Spielebereich nahe: Auch "Deus Ex", das heute verdientermaßen fast legendären Status als Ausnahmespiel genießt und mit einem ähnlichen Entscheidungsgerüst und einem vergleichbaren Mix aus Verschwörungstheorien aufwartete, war mehr als die Summe seiner Einzelteile - und technisch auch keine Glanzleistung. Bis der vor kurzem angekündigte dritte Teil des Kulttitels, "Deus Ex: Human Revolution", erscheint, bietet "Alpha Protocol" willkommene Ablenkung.