Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "WM-Journal '10-2."

Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

2. 6. 2010 - 19:03

WM-Journal '10-2.

Die Gruppen-Previews. "A" wie Psycho oder Patienten.

Seit 1. Juni erscheint das WM-Journal zum Turnier in Südafrika - in den nächsten Tagen mit einer Vorstellung der einzelnen Gruppen.

Das WM-Journal gibts auch als Podcast!

WM 2010: Die Übersicht

Stuart Pearce, den grimmigen englischen Linksverteidiger, nannten sie "Psycho", weil er schauen konnte wie Tony Perkins beim Morden: eine Mixtur aus Schuld, Mitleid, Grauen, Angst und innerem Zwang.

Und Stuart Pearce' Gesicht sehe ich vor mir, wenn ich an die Gruppe A dieser Weltmeisterschaften denke.
Denn das ist die Gruppe der Psycherln, der Patienten.

Allen vier Teilnehmern geht es schlecht.
Alle vier Teams haben sich alles andere als heldenhaft zu dieser WM geschleppt.
Alle sind sie in der Krise.

Hier der Link zur kompletten offiziellen Kader-Liste der FIFA, hier der Überblick bei transfermarkt.

Hier die kompletten Kader der Gruppe auf einen Blick.

Und das ist die Gruppe A-Einschätzung der werten Kollegen.

Bei allen krankt es, an diversen Ecken und Enden, Wehwehchen, echte und eingebildete. Und das begleitende Gejammer. Und Frankreich hat den leibhaftigen Psycho gleich als Coach mit dabei.

Das einzig Positive in diesem Viererzimmer der Angeschlagenen ist, dass zwei von ihnen nach drei Spielen ein kleines Erfolgserlebnis kriegen werden: die werden nämlich aufsteigen. Und sich damit selber überraschen.

Bloß: wer?

Im Viererzimmer der Angeschlagenen

In Frankreich rechnet man zwar damit - das Versagen bei der letzten Euro sitzt aber tief; ein Absturz ist (spätestens seit dem peinlichen Hands-Tor gegen Irland) schon irgendwie einkalkuliert.

In Mexico hat man das Achtelfinale zwar seit Ewigkeiten gepachtet - aber nach der extraschwachen Quali-Runde unken die Auguren angstvoll.

In Uruguay sind zwar alle über den (auch nicht immer üblichen) Relegations-Erfolg froh, man hat aber kein Vertrauen in mehr - der Druck der 30er und 50er-Saga schwebt auch über der aktuellen Generation.

Und in Südafrika hat Carlos Alberto Parreira 60 Kandidaten durchgecheckt und immer noch nicht zu einer Einheit gefunden, konnte die Bafana Bafana nicht einmal für die afrikanische Endrunde qualifizieren.

Im Psycherl-Viererzimmer kann also alles passieren.
Jede Mannschaft kann sich wie Phönix aus der Krisenasche erheben und in Rage schießen. Es kann aber ein Detail, eine unglückliche Wendung ausreichen, um dieselbe Mannschaft tief in die Todesspirale reinzuschicken, die dann der ohnehin defätistischen Grundstimmung gehorchend fatal endet.

Mir macht das jetzt schon Bauchweh, weil ich alle vier Mannschaften mag. Uruguay schon immer, Mexico schon lange, Südafrika seit zwei Dekaden, und - wenn man Domenech wegrechnet - auch Frankreich. Die Platini-Generation in ihrer Genialität, die Cantona-Generation in ihrer Leidensfähigkeit klarerweise auch und die Henry-Generation in ihrer Ausdrucksstärke sowieso.
Jetzt tritt Frankreich in eine Übergangs-Phase - Ausgang unbestimmt.

Trotzdem der Favorit: Frankreich

Ein PS vom Samstag: die zwar unglückliche, aber doch peinlich zustandegekommene Testspiel-Niederlage gegen China (!) bestätigt den davor gewagten Blick auf das französische Team und prolongiert das "seltsame Geheimnis" der unverhältnismäßigen Schwäche.

Im Gegensatz zu den letzten beiden Turnieren hat sich Raymond Domenech die Vorab-Skandale, persönliche Beleidigungen und Nominierungs-Absurditäten erspart. Auch, weil er nach der WM zurücktritt und deshalb keine Angst mehr verbreitet.
Psycho ist milde geworden - und seine Auswahl schlauer; die alten Säcke, die 08 noch für den Absturz mitverantwortlich waren, fehlen großteils oder sind eventuell nur Bankfutter (ob Gallas und Henry wirklich spielen werden?).
Domenechs Pech: so wirklich gut in Form ist außer Franck Ribery eigentlich keiner. Die Arsenal-Defensive hat abgebaut, Malouda und Anelka sind (wie praktisch alle Chelsea-Spieler, Ballack und Essien sind verletzt, Terry angeschlagen, Mikel schwächelt, was können die Portugiesen, Ivanovic, Cole, Lampard oder Drogba aktuell?) im Tal der Wurschtigkeit, selbst Tormann Lloris soll eine Krise haben.

Die Hoffnungsträger sind Gourcuff und Toulalan im zentralen Mittelfeld, der gefärbte Bart von Cisse und die neuen wie Gignac oder Valbuena.

Plus/Minus-Wertung:

Verzichtet hat Domenech wie immer auf Intimfeind Trezeguet und Tormann Frey, auch auf die Zwillinge Boumsong-Mexes und Escude defensiv, den abbauenden Flamini sowie auf Benzema (kein gutes Jahr in Madrid) und, etwas überraschend, auf Nasri von Arsenal.
Lass Diarra und Luyindula sind verletzt oder krank und andere zuletzt Ausprobierte aus der erstarkten heimischen Liga (die C/Sissok/h/os, Fanni, Briand) schlussendlich für zu leicht befunden.

Aber das sind Geschmacksfragen.
Wichtiger wird es sein, ob man sich in 4-4-2, in einem 4-2-3-1 oder gar einem 4-3-3 aufstellt, und wie der zuletzt gestörte Kontakt von Defensive und Offensive funktioniert. Da wird auch einiges von den Außenverteidigern (Sagna und seine schöne Perlenpracht, Abidal... ) abhängen.

Klingt eigentlich alles ganz positiv, oder?
Wie es Les Bleus anstellen, dass sie die gesamte Quali über und auch zuletzt in den Tests trotzdem fast immer mies ausschauen, bleibt ihr seltsames Geheimnis. Ob sie das/sich überwinden können, wird von den Mitbewerbern abhängen.

Das ewige Dark Horse: Mexico

Schau an, einen Tag nach dieser Veröffentlichung schraubt sich Mexico mit einem Testspielsieg gegen Italien zum Co-Favoriten hoch. Erfreulich, vor allem der Einsatz der Jungen, aber ich möchte warnen: das hat womöglich mehr mit der Situation der Italiener zu tun...

Peinlich eng wurde es in der Qualifikation für den 17. der Weltrangliste, der seinen Bereich, die CONCACAF-Gruppe von Nord- und Mittelamerika sowie Karibik sonst im Schlaf gewinnt, aber systematisch hinter die USA zurückgefallen ist.

Ihr Coach, Aguirre, ist nicht der Zorn Gottes, sondern steht vor der unangenehmen Aufgabe, die verschiedenartigen Interessen auszubalancieren. Denn die mexikanische Öffentlichkeit ist heikel; und launisch. Wenn die Spieler, die es im Ausland geschafft haben, die feinen Herren Stars im fernen Europa oder in den großen südamerikanischen Ligen, nicht so gut spielen, dann fordert man mehr Einsatz für die Gewächse aus der heimischen, durchaus gutklassigen Liga, einer vorbildlichen Entwicklungs- und Ausbildungs-Abteilung. Wenn die dann nichts zustande bringen, schreit man wiederum nach den Legionären. Bei der WM gibt's neun davon.
Dasselbe Spiel gibt es mit den Alten und den Jungen.

Plus/Minus-Wertung:

Javier Aguirre fährt hier nun einen beachtlichen Konzessions-Kurs. Einige Alte (wie Pardo, Galindo, Bravo, Borgetti oder Palencia) wurden entfernt - andere (vor allem der Altstar Cuauhtemoc Blanco) sind im Kader. Und auch ein paar der vielen Talente aus der Weltmeister-Generation der U 17 von 2005 haben den Sprung geschafft: Efrain Juarez, Pablo Barrera oder Javier Hernandez.

Auch Psycho: die aktuellen Lächerlichkeiten um die dos Santos-Brüder.

Der hat bereits einen Vertrag mit Manchester United.
Und auch andere Jungstars spielen bei Topclubs: Giovani dos Santos (dessen kleiner Bruder Jonathan, der bei Barca im B-team lauert, wurde noch gestrichen) bei Galatasaray, Andres Guardardo bei Deportivo, Carlos Vela bei Arsenal, alles Offensiv-Kräfte.

Die Abwehr besteht aus eher älteren Herren: Salcido (PSV), Osorio (VfB) oder Rafa Marquez (Barca), die Mittelfeld-Zentrale gehört Kapitän Torrado - und vorne wird man wohl auf Guillermo Franco von Westham setzen.

Stellt sich also die Frage, wie da harmoniert wird - so richtig gut eingespielt hat sich dieses doppelte Gemisch nämlich noch nicht. Ein Knackpunkt könnte auch die Torhüter-Position und die System-Frage sein: ein italienisches 4-3-3 würde, denke ich, dem Gegner durchaus Kopfzerbrechen bereiten.

Der ewige Ex-Weltmeister: Uruguay

Eigentlich hatten es die Celeste in der eigenen Hand, mit extrem breiter Brust zur WM zu fahren: ein Sieg im letzten Spiel gegen Argentinien und man wäre dabei gewesen und hätte den großen Nachbarn auch noch gedemütigt.
Aber: nix da. Niederlage, Relegation und wieder einmal betritt der erste Fußball-Weltmeister ever das Final-Turnier durch die Hintertür.

Dabei ist der Sturm der Uru der nominell wohl weltbeste: Luis Suarez ist mit 35 Toren für Ajax Amsterdam der eigentliche Leader in der europäischen Torschützenwertung; und Diego Forlan, der große Blonde, hat quasi im Alleingang Altetico Madrid zum Euro-League-Titel geschossen.

Das zieht irgendwie automatisch ein System mit zwei Stürmern des gern defensiv agierenden Teams quasi nach sich, da hat Oscar Tabarez keine andere Möglichkeit. Und dieser Mut nach vorne ist womöglich der einzige Trumpf der Truppe.
Was hinten passiert, ob man tatsächlich wie etwa hier vorausgesagt mit einer verschliffenen 3er/5er-Abwehr aufläuft, das glaub ich erst am ersten Spieltag.

Plus/Minus-Wertung:

Die sich wie immer praktisch ausschließlich aus Legionären zusammensetzt - und die auf zumindest noch einmal 25 hochwertige Kräfte fast derselben Preisklasse zurückgreifen könnte.

Genau diese Breite an, sagen wir einmal, international nicht ganz so bekannten Spielern aus der tendenziell zweiten Reihe des Welt-Fußballs, macht die Einschätzung aus der Distanz auch so schwer. Was können die Abwehr-Diegos, Kapitän Lugano und Godin leisten? Gibt es irgendjemanden, der im Mittelfeld die Verantwortung übernimmt - Eguren, Gonzalez, Perez? Darf der junge Lodeiro von Ajax schon was zeigen?

Einer aus der starken Uru-Filiale beim FC Porto, Cristian Rodriguez, ist gesperrt - auf Oldies wie Chevanton, Zalayeta oder Carini hat der mit ähnlichen Problemen schon oft beschäftigte Tabarez auch verzichtet. Und stellt ein Team vor, dem ich gerne was zutrauen würde - aber das trifft in der Psycherl-Gruppe eben auf alle vier Mannschaften gleichermaßen zu...

Der traumatisierte Veranstalter: Südafrika

An die 60 Spieler hat Carlos Alberto Parreira in der Vorbereitung verbraucht - das sind fast Kranklsche Dimensionen und kein Zeichen von Sicherheit und Konstanz.
Der Hausherr steht massiv unter Druck: nur die Nobodies aus Nordkorea stehen in der Weltrangliste schlechter da, die Bafana Bafana läuft hinter Neuseeland ein. Das geht im Rugby (knapp) an - aber im Fußball ist das eigentlich undenkbar.

Südafrikas Team schiebt seit fast einem Jahrzehnt kontinuierlich runter, kletterte immer tiefer, verpasste alle erdenklichen Qualifikationen, war etwa beim Afrika-Cup der Top 16 im Jänner nicht dabei - und setzte sich so dem Spott der kontinentalen Gegner aus.

Im eigenen Terrain nicht ernst genommen zu werden, saugt bereits ordentlich. Die Erfolge der starken Liga nicht ausspielen zu können, nervt zusätzlich. Die Warnung aller bisherigen Veranstalter, dass ein frühes Ausscheiden des Heimteams katastrophal für die Stimmung der WM wäre, drückt es mit noch heftigerer Fliehkraft in die Kurve.

Unter diesen Gesichtspunkten kann die Mannschaft, die (auch aus Eigenverschulden) heuer kein einziges Bewerbspiel hatte, nur gewinnen. Und im Confed-Cup im Vorjahr hat sie (mit viel Glück und enormem Einsatz) auch angedeutet, was gehen könnte. Und gerade in der Gruppe der Patienten... aber das hatten wir schon.

Plus/Minus-Wertung:

Parreira hat auf seinen Superstar Benni McCarthy, Verteidiger Gould, Mittelfeld-Zwerg van Heerden oder Bryce Moon von Pao verzichtet, aber womöglich trotzdem, rein gefühslmäßig, ein umfassend gewappnetes Team aufgestellt. Matt Booth, der Alibi-Weiße, Gaxa oder Tseop Masisela von Maccabi Haifa könnten selbst den alten Libero Mokoena zu einer brauchbaren Abwehr-Leistung anstacheln.
Mit Sibaya von Rubin Kasan gibt es einen Mittelfeld-Stabilisator, der die Offensiven wie Steven Pienaar (letztlich der einzige echte Star der Mannschaft) oder auch Leute wie Modise oder Tshabalala einzusetzen versteht.

Interessanterweise befinden sich nur drei echte Stürmer im Kader (dabei ist das Spiel auf ein 4-4-2 angelegt): den Ältesten, Siyabonga Nomvethe kennen wir schon, der kann durchaus was, Bernard Parker hat eben sein Erfolgserlebnis bei Twente Enschede angeholt und ist ebenso wie Mphela Mitte 20. Und genau dort pendelt sich das Team ein - im mittleren Alter.
Es wird also nix mit einer jungen hungrigen Truppe, aber auch nix mit dem alten erfahrenen Team - es bleibt lau.
Und das ist die große Gefahr.

Denn mit "lau" ist eine Heim-WM nicht zu bestreiten, da geht sich bekanntlich nicht einmal eine Heim-Euro für Österreich aus.

Gruppen-Fazit

Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen und der eben reingetippten Zusammenfassung nach bestem Wissen und Gewissen: es riecht nach einem Ausrutscher von Frankreich, es riecht nach einem Fehlstart von Südafrika. Allerdings: Mexico und Uruguay - das kann doch auch nicht sein? Mindestens eines dieser traditionell fragilen Team-Gebilde wird sich selbst zumindest ein Spiel kosten.

Ein echtes Psycho-Viererzimmer, in dem, wie im echten Krankenhaus, jeder jeden anstecken, aber auch jeder jeden gesundquatschen kann.