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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

1. 6. 2010 - 17:40

WM-Journal '10-1.

Das Wichtigste zuerst: Wir haben alle keine Ahnung.

Ab heute erscheint das WM-Journal zum Turnier in Südafrika. Zumindest täglich, wenn es sein muss, mehrmals. Ab morgen dann mit einer Einschätzung der acht Vorrundengruppen.
Auch wenn dieser Initiations-Text ja deutlich macht, dass jede Einschätzung bloßer Unfug ist.

Das WM-Journal gibts auch als Podcast!

WM 2010: Die Übersicht

Und hier der Link zur kompletten offiziellen Kader-Liste der FIFA.

Ja, die Welt ist unglaublich eng zusammengewachsen, Spieler stellen sich via Facebook selber auf und die Datenflut und Informationsdichte ist enorm.
Aber eine Konstante bleibt: Ein Fußball-Großereignis, wie heuer die WM in Südafrika, steht an und wir haben allesamt keinen Plan der Einschätzung.

Nicht nur die echten Profis und die Poser-Profis, die sogenannten Experten, auch die Alleswisser-Nerds: keinen Plan, keine Ahnung. Genauso die Fans, egal ob Alles-Nachplapperer oder Kritisch-Hinterfrager: keinen Tau.

Woher sonst kommt etwa das Gelaber auf die Frage nach den Favoriten? Vageres und Schlapperes hat die Welt nicht zu bieten: Spanien (weil zuletzt eurodominant) Argentinien (weil Messi), Brasilien (weil immer), Deutschland (weil Turniermannschaft), dazu - je nach Geschmackslage - England oder Holland. Und ein paar Irre setzen - gegen jeden Trend - auf Frankreich und Italien; weil gegen den Trend zocken viel Gewinn bietet.

Wir wissen nichts.

Mit "wissen" hat das alles nichts zu tun, null.

Diese Einschätzungen entstehen aus einer weltüberspannend in den Fanbäuchen vor sich hinköchelnden Suppe aus Preconceptions, historischen Zuschreibungen, Sympathien und Erfahrungswerten, die denen mit der Kinderhand und der Herdplatte nichts voraushaben. Das sind Instinkt gewordene festgefahrene Klischees, die deshalb eintreffen, weil auch die Akteure selber dran glauben und weil die Streuung zu hoch ist. Denn unter den 8 Genannten wird sich der künftige Weltmeister schon finden; und eine im Nachhinein konstruierte Logik, die das "hab ich doch immer schon gesagt" bestätigt, lässt sich bei vieldeutigem Gelaber und dauerndem Hakenschlagen leicht aufbereiten.

Die realistische Einschätzung, die eigentlich möglich sein müsste, gelingt schon im eigenen Haus kaum. Ich erinnere an die Euro 08 und die österreichische Performance. Die war in dieser Form der gebotenen Leistung nicht vorauszusehen (und alle, die das im Nachhinein behauptet haben, sind Beweise schuldig geblieben) - weil irrationale Personalentscheidungen, krasse Taktikfehler und natürlich die Turnier-Dynamik jegliche Vorabeinschätzung Lügen strafen mussten.

Die Vereinsleistungen zählen zwölfe

Mit Mannschaften, die man noch weniger gut kennt, geht das dann überhaupt nicht mehr. Da nützt auch die Omnipräsenz der WM-Teilnehmer bei englischen, spanischen, italienischen oder deutschen Vereinen, deren Spiele der geneigte TV-Zuseher öfters verfolgt, gar nichts. Im Nationalteam werden taktisch stabile Eto'os plötzlich zum Egoshooter, selbstbewusste Militos zu Angsthasen und disziplinierte Lucios zu Vornewegläufern.
Bestes Beispiel der WM 2006: Der ukrainische Superstar Shevshenko (davor Genius bei Milan oder Chelsea) vergatterte dass Nationalteam zu einer Art Garde für seine oligarchischen Ausfälle und brachte so seine Kreativität um.
Damit hatten vielleicht ein paar dortige Auskenner gerechnet - für die Profis, Experten, Nerds und Fans war das in seiner massiven Ausprägung eine neue Erkenntnis. Und zementierte das Bewusstsein der Chancenlosigkeit; weil: keine Ahnung.

Selbst ein kollektives Sammeln aller Infos aller wirklich ausgefuchsten Auskenner-Renegaten und Genauschauer-Analytiker aller 32 Teilnehmer würde da nichts bringen. Weil die Vorraussetzungen, die Levels unterschiedlich sind.

Am Beispiel von Svento und Afolabi

Wenn der Selecao-Wissende über die Doppel-6er-Defensiv-Strategie von Carlos Dunga schimpft, dann kann das Jammern auf überhöhtem Niveau sein - wie schnell der Hebel auf das, was der Brasilianer dann als normal erachtet (Offensiv-Wirbel von Kaka und Co) umspringt, geht daraus nicht hervor.

Anderes Beispiel: Ich habe in den letzten Tagen zufällig mit Slowaken zu tun gehabt; und da von 3 Menschen zumindest 5 Meinungen gehört, was die Einschätzung der eigenen Stärke oder die Chancen von Dusan Svento auf eine Teilnahme betrifft. Svento ist (entgegen der Expertise der Experten) rausgekippt worden. Und die Einschätzung der Chancenlage ist aufgrund der fehlenden Bauchgefühl/Zuschreibungs/Sympathie/Erfahrungswerte einfach nichts wert.

Apropos Svento: Aus der österreichischen Bundesliga hat jetzt nur Rafiu Afolabi ein Fluticket für Südafrika bekommen. Wo er dann im Ellis Park, Bloemfontein und Durban wohl auf der Bank sitzen wird.

Aufstellung ohne Beobachtung

Wohl auch, weil niemand die österreichische Liga im Sichtfenster hat und Afolabi so nicht wirklich einschätzen kann, wohingegen seine direkte Konkurrenz in England, Frankreich, Russland und Holland stärker am Radar auftaucht.
Das ist kein Vorwurf - auch über diese Einschätzung manifestiert sich die Bedeutung.
Und: Auch die ÖFB-Betreuer berufen die Spieler, die sie nicht mit einer kurzen Autofahrt live anschauen können, nach schierem Abzählen der statistischen Werte ein. Wie sollte also ein Lars Lagerbäck, der seine nigerianische Mannschaft über ganz Europa verstreut hat, da umfassender vorgehen können.

Dass sich, wie unlängst in einer ZDF-Doku gesehen, der serbische Verband WM-Nominierungen von Spielern für 1 Million Dollar abkaufen ließ, lassen wir einmal als Ausnahme gelten. Die Doku ist leider (Rechtslage und so) nur von Deutschland aus zu sehen.

Dort, bei den Teams selber, beginnt es nämlich schon mit der Ahnung. Die haben die auch selber nicht immer. Je schwächer die Strukturen der Verbände, je geringer die Möglichkeiten der Beobachtung und Sichtung sind, desto zufälliger werden die Selektionslisten. Und die Ahnungslosigkeit potenziert sich.

Im Wesentlichen setzt sich dann der durch, der die wenigsten Fehler macht - wie immer im Fußball.

Nur weil ich zufällig jüngst Bunjaku gesehen habe...

Ich bin dann immer für Direkt-Kontakte dankbar wie die Begegnung mit Trinidad in einem Testspiel vor der WM 06 oder jetzt einem Spiel von Neuseeland oder Nordkorea. Da lösen sich dann Fragezeichen in kleine erleuchtende Rufezeichen auf. Die Nummer 23 der Koreaner, was für eine Wucht. Und das Ziehharmonika-System der Neuseeländer, alle Achtung!

Aber: Bei diesen Außenseitern wissen wir ja, dass wir nix wissen; und zelebrieren die Neugier.
Aber: Was wissen wir denn über Slowaken, Slowenen und Schweizer? Wie legen die's denn an? Ist eine Mannschaft, die einen Angreifer wie Bunjaku nachnominiert Achtelfinalfit? Und: Sage ich das nur, weil ich den zufällig jüngst in Nürnberg live gesehen habe, und mir - auch weil Rubin Okotie jetzt dorthinkommt - deshalb eine als "fundiert" verkaufte Meinung anmaße?

Und: Funktioniert die Sache mit der Ahnung und der Einschätzung nicht nur über solche Happen von partiellem Wissen, das wir anderen voraushaben (und fast jeder hat wo was gesehen, was viele andere halt nicht gesehen habe)?

Meinungen zimmern, als Gegenteil von echter Ahnung

Zimmern wir uns echt daraus dann Meinungen, die wir die nächsten Wochen wie Fanfaren vor uns her schmettern werden?

Die gar nicht so erschütternde Antwort: Ja, so ist das. Wir mischen irgendein Zufallswissen zu dem Bauch-Gebräu aus kollektivem, gefühligem, historischem Wissen um Zuschreibungen und haben dann eine individuell geprägte Eigenmeinung. Die in ihrer strotzenden Subjektivität an Absurdes Theater grenzt.

Von wegen nix wissen, nur fühlen: 20 Uhr 35, ich schalte eine Minute nach dem Anpfiff des Tests Niederlande - Ghana ein und brauche dann nur fünf Minuten um die beiden Teams personell und strukturell zu sortieren. Nicht dass ich sagen könnte wie diese Mannschaften in der Competetion aussehen werden - aber sie so prinzipiell fühlen, das geht sich doch aus.

Wir alle sind so.
Wir alle haben keine Ahnung.
Wir Fans und Nerds und Experten und "Experten" und Profis. Der Prohaska genauso wie der Einöder, der Klopp wie der Springenschmid und vielleicht sogar der Arsene Wenger, weil der für Eurosport Expertisen abliefern wird, wie ich gerade gehört habe. Wer weiß, ob der checkt, was Domenech oder Capello vorhaben, wer weiß, ob der Ahnung hat, welchen Part Alex Song oder Robin van Persie in ihrem Nationalteam spielen, ob Cesc Fabregas sich in der spanischen Mittelfeldreihe zurechtfindet, warum Eboue anders als von ihm eingesetzt wird.

Krawuzi Kapuzi Wunderwuzzi!

Vielleicht ist Wenger eine der Ausnahmen, einer der Topinformierten, die die meisten WM-Starter jetzt schon taktisch skizzieren könnten und mit einer Analyse von Stärken und Schwächen, mit Geheimtipps und Personal-Entscheidungen richtig liegen. Ich will gern an die Existenz der Wunderwuzzis glauben.

Ab morgen probier ich's trotzdem, auch weil heute um Mitternacht die Kader feststehen: mit einer Einschätzung der 8 Vorrunden-Gruppen.

Für die anderen 99,99 % gilt: Wir wissen nichts. Wir haben nur unser dumpfes Bauchgefühl.

Wir wissen aber, wie wir uns das als Wissen schönreden können; und wir wissen jetzt schon, wie das geht, dass wir es nachher schon im Vornhinein gewusst haben.