Erstellt am: 24. 5. 2010 - 15:43 Uhr
Ein Flüstern im Dschungel
Endlich, endlich, endlich! Never judge a book by its cover oder Was lange währt, wird endlich gut. So beeindruckend mittelklassig sich der offizielle Wettbewerb der diesjährigen Filmfestspiele von Cannes bis zuletzt ausgenommen hat, so großartig sind die Preise, die von der offiziellen Jury unter dem Vorsitz des Hollywood-Fantasten Tim Burton gestern Abend verliehen worden sind. Wie immer vor solchen Entscheidungen flirren einem Buchmacher-Prophezeiungen und auf fünftausendundeins Internet-Seiten mit dem Gestus der Absolutheit verkündete Hitparaden um die Ohren, flüstern einem Insider schon vorab die Ergebnisse der Palmen-Verleihung, die sich dann in 99,99 Prozent aller Fälle freilich als vollkommener Humbug heraus stellen.
Spaß macht es natürlich, dieses Miteifern, Hoffen und Bangen: bei aller künstlerischen Gemeinschaftlichkeit bleibt von den Teilnehmern am wohl wichtigsten Filmwettbewerb der Welt (Oscars mal ausgenommen) schließlich nur einer übrig, der sich fortan das Emblem von Cannes inklusive des Zusatzes „Palme d’Or“ aufs Poster pappen darf. Die Filmindustrie-Gazette Variety hat in einer ihrer Festival-Ausgaben untersucht, welchen Einfluss denn ein solcher Hauptpreis auf das zukünftige kommerzielle Potenzial hat, mit dem Resultat, dass ein Cannes-Sieg zwar noch kein Box Office-Bonanza nach sich zieht, aber unweigerlich beim Verkauf des Films in viele ausländische Märkte (im Besonderen die asiatischen) hilft.
Beautiful Joe
Cannes
Insofern ist es gut möglich, dass ein Regisseur, der schon seit einiger Zeit ganz nah an meinem Herzen angesiedelt ist, jetzt ein breiteres internationales Publikum findet. Zu wünschen wäre es, ta-dah, Apichatpong Weerasethakul jedenfalls: Im Gegensatz zu seinem Namen sind die Filme des 39-Jährigen keinesfalls sperrig, sind so primitive wie feingliedrige, aus seinen Erinnerungen an Kindheit und Horrorfilme, aus seinem Glauben an das Metaphysische erwachsene Erfahrungswelten, die ihresgleichen suchen und selten bis nie finden. Der erste Film Weerasethakuls, der hierzulande für einiges Aufsehen sorgte, das war Sud pralad (Tropical Malady), ein dschungelschwangerer Selbsterfahrungstrip, bei dem sich der Kinoraum mit Grillenzirpen und Blätterrascheln, mythischen Tigern und fluoreszierenden Bäumen gefüllt hat. Ein anderes Pandora, denn die Filme des Thailänders sind immer auch Science-Fiction: die dunklen Gänge, Prothesenschränke und Rauchabzugsanlagen aus Sang Sattawat (Syndromes and a Century), Weerasethakuls Beitrag zum Mozartjahr-Projekt "New Crowned Hope", transformiert der Ärztesohn auf der Leinwand in von metallischen Geräuschen und elektronischem Surren erfüllte Räume einer futuristischen Welt.
"Uncle Boonmee who can recall his past lives" ist, jedenfalls im klassischen Sinn, weniger autobiografisch beeinflusst als seine früheren Arbeiten: geblieben ist allerdings seine Faszination mit den eigenen Erinnerungen. In diesem Film - ein Teilstück seines Primitiv-Projekts, aus dem schon ein Kurzfilm und eine Ausstellung hervor gegangen sind - wird aus einer realen Person, die Weerasethakul auf einer seiner vielen Thailand-Reisen angetroffen hat, ein älterer Mann, der in einem Tempel mitarbeitet, die Filmfigur des Onkel Boonmee: ein Nierenkrebs raubt ihm die Lebenskräfte, bereitet ihn aber auch vor für den Eingang in eine andere Bewusstseins- oder Bewusstseinslosigkeitsebene, ermöglicht ihm eine Konferenz mit Geisterwesen.
Cannes
Spiritus Mundi
Auf der Veranda seines Hauses im nordöstlichen Thailand ruhend, mit seiner Schwägerin plaudernd, erscheint ihm zuerst seine verstorbene Frau Huay, später auch noch sein verlorener Sohn, der als ganzkörperbehaarter, mit roten Leuchtaugen versehener Affengott aus dem dichten Grün des Dschungels zurück kehrt. Sie flankieren Boonmees Abgang aus dieser Welt: wie bei einer Rückwärtsgeburt klettert er schließlich durch den Urkanal einer Höhlenöffnung hinein in eine urzeitliche Welt, öffnet den Verschluss seines Katheters und lässt das Leben aus sich heraus rinnen. Keine Maschinen halten ihn am Leben, bis zum Ende bleibt er selbstbestimmt. Das Tondesign, die Farben, wie Weerasethakul seine Anderswelten aufbaut und in einem verankert, das ist ganz große Kunst. Ohne Zweifel ist „Uncle Boonmee who can recall his past lives“ einer der besten Filme des Jahres. Ein Meisterstück.
Marie-Julie MAILLE Armada Films/Why Not Productions, Cannes
Mit Spiritualität und dem Glauben an eine andere, vielleicht bessere Welt beschäftigt sich auch der zweite große Gewinner des gestrigen Abends: der Große Preis der Jury geht an Des hommes et des dieux, ein unscheinbares, dennoch gewaltiges Drama des Franzosen Xavier Beauvois (Le petit lieutenant). Ausgehend von einem wahren Fall aus dem Jahr 1996 beschreibt er in kontemplativen Bildern das Leben von Trappistenmönchen in Algerien, die von einer islamistischen Terrorgruppe in Geiselhaft genommen werden. Ich habe hier bereits darüber geschrieben.
Korea revisited
Cannes 2010, das war auch ein Siegeszug für das koreanische Kino: der jüngste Film von Hong Sang-soo, lakonisch betitelt mit Hahaha, wurde mit dem Hauptpreis der Nebensektion Un Certain Regard ausgezeichnet, während der Drehbuchpreis des Wettbewerbs gerechtfertigt an Lee Chang-Dongs Poetry geht. Der Regisseur, der mit Secret Sunshine einen der besten Filme des Jahres 2007 abgeliefert hat, erzählt darin, formal und inhaltlich reduziert, von einer alten koreanischen Dame, einem Golden Girl in Pastellfarben und mit Hut, die mit ihrem 14-jährigen Enkel in einer kleinen Wohnung lebt. Um sich ihre Rente etwas aufzubessern, pflegt sie einen älteren Herrn, der nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt ist. In ihrem einfachen, aber freundlichen, immerzu hilfsbereiten Wesen verfestigt sich das Bild des alten Koreas, einer Gesellschaft, die Privates und Öffentliches strikt trennt, für die Familienehre und Ansehen essenziell ist.
Cannes
Umso härter trifft es Mija (genial verkörpert von einer Grand Dame des koreanischen Kinos, Yun Junghee), als sie heraus findet, dass ihr Enkel mit fünf anderen Burschen eine Mitschülerin über Monate hinweg vergewaltigt und dass sich das Opfer mittlerweile umgebracht hat. Die alte, an Alzheimer leidende Dame verliert daraufhin immer mehr den Bezug zu der Wirklichkeit um sie herum, die, wie der Film klar stellt, sich kaum verändert - die Väter der Vergewaltiger zahlen der Mutter des Mädchens ein Entschädigungsgeld, um das Verbrechen verheimlichen zu können; nur die Formen der systemischen und konkreten Gewalt an und der Unterdrückung und Entrechtung der Frauen verändern sich -, findet dafür aber mit vorschreitendem Demenzstadium die Poesie in ihrem vollkommen unpoetischen Leben.
Visionäre Palmen
Von den 63. Filmfestspielen von Cannes bleibt also eine Speerspitze übrig: selten hat eine Jury so selbstsicher die interessantesten Filme des Wettbewerbs gekürt. Sucht man eine ähnlich fähige Entscheidung, muss man zurück gehen bis ins Jahr 1999, als die Belgier Jean-Pierre und Luc Dardenne für Rosetta die Goldene Palme verliehen bekamen. Mit dem Sieg Weerasethakuls bestätigt sich Cannes als wichtigsten Filmfestival der Welt. Bleibt zu hoffen, dass "Variety" Recht hat, und die ort- und zeitlosen Dschungelfantasien von "Uncle Boonmee who can recall his past lives" ihren urwüchsigen Kinozauber möglichst überall verbreiten können.
Die Preise im Überblick:
Palme d'Or
LUNG BOONMEE RALUEK CHAT (Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives) directed by Apichatpong WEERASETHAKUL
Grand Prix
DES HOMMES ET DES DIEUX (OF GODS AND MEN) directed by Xavier BEAUVOIS
Award for Best Director
Mathieu AMALRIC for TOURNÉE (ON TOUR)
Award for Best Screenplay
LEE Chang-dong for POETRY
Award for Best Actress
Juliette BINOCHE in COPIE CONFORME (CERTIFIED COPY) directed by Abbas KIAROSTAMI
Award for Best Actor Ex-aequo
Javier BARDEM in BIUTIFUL directed by Alejandro GONZÁLEZ IÑÁRRITU
Elio GERMANO in LA NOSTRA VITA (OUR LIFE) directed by Daniele LUCHETTI
Jury Prize
UN HOMME QUI CRIE (A screaming man) directed by Mahamat-Saleh HAROUN