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Astrid Schwarz

Radio FM4

Astrid Schwarz

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22. 5. 2010 - 17:25

Clemens Bergers "Streichelinstitut"

Wien hat ein eigenes Streichelinstitut, damit die Welt auch für Hautkontaktabstinenzler ein wenig leichter zu ertragen ist an trüben, emotional leeren Tagen.

Sebastian hat's nicht leicht. Er kennt die Theorie von Adorno, Marx und Kant in und auswendig, doch wie er nach seinem Philosophiestudium seine Miete, den Wein, kurz das süße Leben in Wien bezahlen soll, davon hat er keine Ahnung. Er schreibt zwar erfolgreich Dissertationen für andere, aber seine eigene fängt er gar nicht erst an.

Sebastians Freundin Anna ist Dozentin am Philosophieinstitut und Entdeckerin und Nutznießerin seines Streicheltalents. Anna meint, er könne reich werden damit. Die Idee eines Streichelinstituts wird im ersten gemeinsamen Urlaub geboren und nach einigem Zögern von Sebastian umgesetzt. Aus Sebastian wird Severin und er eröffnet sein Institut mit Namen "caress_caress" in der Mondscheingasse. Eine Anzeige in einer links-liberalen Stadtzeitung lockt erste Kunden an.

Fehlen Ihnen Nähe, Zärtlichkeit, sanfte Berührung? Severin streichelt in der Mondscheingasse. Einheiten im Fünfundvierzigminutentakt. Keine Berührungen unter der Gürtellinie.

Klarerweise kann das letzte Versprechen nicht eingehalten werden im Roman. Denn die Stammkundin der ersten Stunde, die attraktive Frau Dr. Fischer, drückt Sebastian eine DVD mit tantrischen Massageanweisungen in die Hand - so lernt er die Kunst, unter der Gürtellinie zu streicheln - und verletzt beinahe nicht die „kein Sex- niemals“ Regel. Clemens Berger widmet sich der Thematik nicht so detailgetreu wie Charlotte Roche in ihren Feuchtgebieten - obwohl man durchaus eine gewisse Lust an erotische Beschreibung herauslesen kann.

buchcover clemens berger "das streichelinstitut"

wallstein verlag

Clemens Bergers' "Streichelinstitut" ist im Wallstein Verlag erschienen.

Mit diesem Vorstoß unter die Gürtellinie nehmen die emotionalen Verwicklungen ihren Lauf. Frau Dr. Fischer wird Sebastians Teilhaberin in einem von ihr finanzierten, vergrößerten Institut, Sebastian wird Titelheld einer links-liberalen Stadtzeitung und seinem kapitalistischen Wellenritt steht nichts mehr im Wege. Denn das heißt Überleben in der Alltagsmaschinerie, auch wenn das Leben ohne Geld lebenswerter war.

Von Hand geschrieben

Clemens Berger hat zwei Jahre mit seinen Figuren verbracht. Anders als bei seinen vorigen Büchern hat das Streichelinstitut nur mit der Idee begonnen. Es gab kein Handlungsskelett. Allein die Idee stand fest und der Wille zur Gesellschaftskritik. Oder das eine hat das andere ergeben.

Das Streichelinstitut ist ein Kommentar zum Wellness/Esoterikhype, der aus allem eine Therapie zu machen vermag, um vordergründig den Menschen aus ihrer Sinnkrise zu helfen und damit Geld zu verdienen. Das hat für Clemens Berger nur ein Ziel: die Menschen allzeit bereit für den Arbeitsmarkt zu machen.
Die große Maschinerie namens Esoterik greift den Menschen nicht wirklich unter den Arm, sie bleibt eine Ideologie, ein Konstrukt, das die Menschen zu Idioten der Wirklichkeit macht, wie er im Interview sagt.

Clemens Bergers Roman ist ein Rundumschlag in punkto Zeitgeist, ein Sammelsurium an philosophischen Exkursen über Medien, Krieg und virtuellen Sex. Sebastian lässt wirklich fast kein Thema aus, was das Buch streckenweise etwas langsam und langwierig macht. Aber der Stil besticht, leichtfüßig und ganz schwer wegzulegen, das Streichelinstitut.

Meine Zielgruppe war die desillusionierte Mittelschicht, das traurige, kulturell deklassierte Bürgertum, das ich Lumpenbourgeoisie nenne.