Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Spekulations-Rap"

Pinguin

Hinweise zur geistigen Selbstverteidigung in Wirtschaftsfragen. Hauptwohnsitz: Zeitschrift Malmoe

23. 5. 2010 - 11:06

Spekulations-Rap

Was Derivate und Hip-Hop gemeinsam haben.

Mit der Debatte um "geklaute" Textpassagen in Helene Hegemanns "Axolotl Roadkill" hat die Debatte um "Sampling" in der Popkultur - die in den 80er und 90er Jahren heftig in der Musikbranche tobte - den Literaturbetrieb und einen neuen Höhepunkt im Feuilleton erreicht.

Auf den Wirtschaftsseiten wird dagegen in den letzten Monaten intensiv über Rolle und Nutzen von Derivaten diskutiert. Diese Debatte ist Mitte dieser Woche in der spektakulären Entscheidung der deutschen Finanzaufsicht kulminiert, Spekulation auf die Kreditwürdigkeit der Euro-Staaten über ungedeckte Kreditderivate (sowie Leerverkäufe von Bankaktien und Staatsanleihen) zu verbieten.

Die wilden Siebziger...

Die Parallele hat Geschichte:

1973/74 beobachtet DJ Kool Herc bei seinen Block Parties in den New Yorker Bronx, dass viele TänzerInnen nur auf die Breaks in einem Song warten, um die Tanzfläche zu betreten. Fortan spielte er nur noch Breaks. Mit der darauf aufbauenden Explosion von HipHop wurde Sampling zu einem zentralen Element in der Popkultur, das auch in anderen Stilen (wie Tekkno etc.) aufgenommen und so zur Basis selbständiger Genres wurde.

1145 Kilometer entfernt, in Chicago, nahm zur gleichen Zeit eine andere Erfolgsgeschichte ihren Ausgangspunkt: Als nach dem Zusammenbruch des weltweiten Systems fixer Wechselkurse ("Bretton Woods System") um 1970 die Austauschverhältnisse zwischen den wichtigsten Weltwährungen immer unberechenbarer wurden, gab es eine große Nachfrage von Geschäftsleuten nach Absicherung gegen dieses Risiko und auch neue Möglichkeiten, aus diesen Schwankungen Profit zu schlagen. Als die Ökonomen Fischer Black and Myron Scholes 1973 ein mathematisches Modell entwarfen, das die Berechnung von Optionspreisen extrem vereinfachte, legten sie damit den Grundstein zur Explosion des sogenannten Derivate-Markts. Ein solcher wurde 1973 in Chicago eingerichtet, und seither zeigt die Kurve des Marktvolumens steil nach oben – heute werden Derivate auf eine Vielzahl von Finanzprodukten gehandelt.

flickr.com

Wetten auf die Zukunft

Ein Derivat (das Fremdwort bedeutet so viel wie "das Abgeleitete") ist ein Vertrag, dessen Gegenstand die mögliche Preisänderung eines anderen Finanzprodukts ist - eine Art Wette: Ein Derivatkäufer zahlt an den Derivatverkäufer eine Gebühr. Der Derivatverkäufer verpflichtet sich dafür, den Derivatkäufer zu entschädigen, falls sich der Preis des zugrundeliegenden Gegenstands des Derivats ändert. Das ähnelt einer Versicherung, wenn der Käufer den zugrundeliegenden Gegenstand (Währung, Aktie, Anleihe etc.) besitzt. Es geht in Richtung Spekulation, wenn der Käufer den zugrundeliegenden Gegenstand gar nicht besitzt. In Deutschland sind jetzt zum Beispiel Käufe von Derivaten auf Staatsanleihen verboten, wenn man diese Anleihen nicht besitzt. Dadurch soll signalisiert werden, dass es nicht geschätzt wird, dass auf einen Staatsbankrott Griechenlands spekuliert wird – denn Geschäfte mit Derivaten können letztlich Auswirkungen auf das zugrundeliegende Papier und seinen Preis haben (kleine Nebenbemerkung: weil es zahlreiche Ausnahmen für diese neue Regel gibt und sich das Verbot auf Deutschland beschränkt, während der meiste Handel anderswo stattfindet, liegt die Vermutung nahe, diese Maßnahme sei eher eine symbolische Geste, um dem deutschen Parlament die Hilfe für Griechenland zu "verkaufen", indem man Härte gegenüber Spekulanten signalisiert). Dass das Volumen von Derivaten in die Billionen geht, zeigt, dass dieser Markt mittlerweile ein markantes Eigenleben gegenüber seinen zugrundeliegenden Gegenständen entwickelt hat.

flickr.com

Parallelwelten

Beim Sampling ist es ähnlich: So wie Derivate das Preisänderungs-Risiko aus einem zugrundeliegenden Finanzinstrument (dem Besitz einer Aktie, einer Währung etc.) herausschälen und dieses Risiko zum Gegenstand eines eigenen Kontrakts machen, so schält der DJ beim Sampling Breaks aus Musikstücken und kombiniert diese zu selbständigen Stücken. Auch Sampling war die Grundlage einer Explosion eigener Genres.

Beide sind keine plumpen Plagiate, sondern ihre Herstellung und Kombination ist mit Einfallsreichtum und technischer Finesse verbunden.

Beide sind Innovationen, die sich enorm verbreiteten und zu eigenen Geschäftszweigen wurden, in einer Zeit, wo die zugrundeliegenden Quellen, aus denen sie sich bedienten, stagnierten: Das Innovationsloch in der Popmusik in der 70er-Ära von Rock-Dinosauriern und Stadionrock bildete das Umfeld, in dem Sampling aufkam, ebenso wie die wirtschaftliche Stagnation der 70er Jahre das anlagesuchende Kapital auf die Finanzmärkte lockte, wo der neue Derivatemarkt unbegrenzte Anlagemöglichkeiten bot.

Dance- und Trading-Floor Battles

Sobald die so entstehenden Märkte richtig groß wurden, wurden sie zum Gegenstand von Kontroversen: Um das Sampling kam es zu Streitigkeiten über die Rechte und die Vergütung. In den 90ern wurde in den USA ein System etabliert, das die Vorab-Klärung und Vergütung von Samples festschreibt – mit bremsender Wirkung für ihre Verwendung.

Die Lösung, die für Sampling gefunden wurde, steht für Derivate trotz wachsender öffentlicher Zweifel im Zuge der jüngsten Finanzkrise immer noch aus. Bei Sampling geht es um Urheberrechtsverletzung und die Frage, wem die Einkünfte zustehen, aber auch, wer die Kontrolle über die Musik hat. Bei Derivaten geht die öffentliche Debatte darum, wer das Recht hat, den Wert des zugrundeliegenden Papiers zu bestimmen – und damit auch letztlich eine Form der Kontrolle: Ist es in Ordnung, dass ein mitunter spekulativ aufgeblähtes Derivategeschäft weitgehend unkontrolliert ablaufen kann, obwohl es auf die zugrundeliegenden Papiere und Geschäfte zurückwirkt? Damit ist die Frage des gesellschaftlichen Nutzens angeschnitten. Der ist bei Sampling einsichtiger: Nicht nur die ProduzentInnen haben was davon, auch Musikgenuss bei den HörerInnen stellt sich ein. Bei Derivaten haben die Vertragsparteien einen Nutzen (obwohl es auch hier immer wieder Episoden gibt, wo selbst große industrielle Profi-Nutzer behaupten, von Finanzinstituten bezüglich der Risiken in die Irre geführt worden zu sein), der gesellschaftliche Nutzen ist aber immer stärker umstritten, wie derzeit klar wird.