Erstellt am: 20. 5. 2010 - 15:55 Uhr
Nachtschattengewächse
Vor ziemlich genau zwei Jahren hatte ich so etwas wie ein Erweckungserlebnis hier in Cannes. Ein Held meiner Jugendzeit schob sich damals radikal und zärtlich zurück in die Mitte meines Erfahrungshorizonts, allerdings anders, als ich es erwartet hatte. Mabrouk El Mechris hintersinniges Psychodrama JCVD sorgte in Folge seiner Uraufführung am Marché du Film, einer der wichtigsten internationalen Filmmessen, für eine Renaissance der Muscles from Bruxelles Jean-Claude Van Damme. In den folgenden Monaten habe ich mir viele seiner früheren Filme als Schauspieler auf DVD gekauft, mich verloren in diesem wunderschönsten aller Kino-Orte, der zwischen Erinnerung und Neuentdeckung liegt. Bloodsport mit seiner unbedingten Fokussierung von männlichen Kampfkörpern in den engen, stickigen Hintergassen Hong Kongs, wo sich plötzlich die archaische Welt einer mythisch überhöhten Kampfarena mit der boomenden, brutzelnden Modernität bricht. Oder auch John Woos Meisterwerk Hard Target, dieser Neo-Western mit der dampfenden, verrohten Stadt, in der sich – viele Jahre vor Eli Roths "Hostel" – die Reichen damit vergnügen, die Armen und Entrechteten zu jagen.
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Van Damme hat JCVD zu Recht als Chance begriffen, sich selbst als Künstler neu zu positionieren. Man konnte es seinem kantigen, gealterten Gesicht ablesen, wie sehr er von seinem Weltruhm in den Neunziger Jahren immer noch zehrte, aber genau so, wie unbedingt er sich jetzt, als fast Fünfzigjähriger davon absetzen will. In ihm verdichtet sich vieles, was unvereinbar scheint: ein Kind, das sich nicht zuletzt aufgrund seiner Unsicherheiten ausschließlich der Körperkultivierung gewidmet hat, ein junger Mann, der durch Glück und Talent zu einem der größten Action-Stars der jüngeren Kinogeschichte aufgebaut worden ist, ein Ehemann und Vater dreier Kinder, der sich durch haltlosen Drogenkonsum selbst ins Abseits manövriert hat, jetzt ein Geläuterter, der seinem Leben und seiner Kunst einen neuen Sinn einimpfen will, eine eigene Produktionsfirma gründet, sie Rodin Entertainment nennt und 2010 in Cannes, wiederum am Markt und nicht im offiziellen Festivalprogramm, den ersten Film des neuen Van Damme vorstellt. Er heißt The Eagle Path.
Der Weg des Adlers
Der Adler als ultimative Freiheitsfigur schwebt über diesem Film wie eine Gottheit aus einer anderen Welt. Frenchy (Van Damme) schlägt sich in Ostasien als Taxifahrer durch: durch die konstante Bewegung gelingt es ihm vielleicht besser, das Trauma seiner Kindheit zu verdrängen, das ihn immer noch quält: sein Großvater hat seine Mutter regelmäßig an den meistbietenden Freier verscherbelt, als kleiner Bub beobachtet er durch die verdreckten Fenster der kleinen Holzhütte, wie sie, also die ideale Frau, vergewaltigt wird. Eines Tages nimmt eine junge Frau auf dem Rücksitz seines Taxis Platz, die seiner Mutter bis aufs Haar gleicht: sie arbeitet in einem Nobelbordell. Frenchy weiß, was er zu tun hat: wenn es ihm gelingt, sie zu befreien, ist auch er befreit.
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Van Dammes Moral ist absolut: die reichen Klienten sind verroht, von psychologischer Nuancierung hält der Regisseur in seiner zweiten Arbeit nach dem hervorragenden „The Quest“ nichts. Er inszeniert wie ein Manischer, beinahe im Minutentakt werfen einen Rückblenden in die Kindheit zurück, aus der Gegenwart hinaus, die Musik dröhnt, als gäbe es kein Morgen mehr. Es ist klar: Van Damme gibt für „The Eagle Path“ alles, sowohl als Regisseur, wie auch als Hauptdarsteller. Er schwitzt, schießt, schreit, alles übertrieben, auch an der Grenze zur Peinlichkeit, aber so aufrichtig und einzigartig, dass es mir den Atem geraubt hat. Hier erfindet sich einer auf der Leinwand neu, richtig verzweifelt: Van Damme weiß, er muss viel tun, um auch seine Kritiker zu überzeugen. Diejenigen, die ihn immer noch rein als Körper wahrnehmen wollen.
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„The Eagle Path“ gipfelt in einer monströsen, 15-minütigen Montagesequenz, wiederum angetrieben von dröhnenden Kompositionen, die Frenchys persönliche Malaise mit allem Leid dieser Welt vereinen: wenn nur ein einziger Mensch moralisch integer handelt, dann, meint Van Damme, könnte alles besser werden. Polkappen schmelzen nicht, Tiere sterben nicht aus, Wälder werden nicht gerodet. Das Universum ruht in sich selbst. „The Eagle Path“ einen guten oder schlechten Film zu nennen, das würde zu kurz greifen: es gibt viele merkwürdige Momente, schlechte Schnitte, fürchterliche Schauspieler, dramaturgische Gräben, die im ersten Moment unüberwindbar scheinen. Aber wenn man erst einmal einen Funken von Van Dammes Vision, von dem Herz, das in diesem Projekt steckt, gespürt hat, dann kommt man aus dem Staunen, aus der Bewunderung für diesen Mann kaum mehr heraus.
Cannes, das ist eben mehr als das offizielle Programm, das sind viele Abzweigungen und Ausflüge in Filmwelten, die zu wenig gebügelt und zugeschnitten sind auf ein bestimmtes Publikum, als dass sie es jemals regulär ins Kino schaffen könnten. Bastardkinder von Leidenschaftlichen, die in vielerlei Hinsicht die Essenz dieser Kunst verkörpern: keine Perfektion, kein ausschließlicher Unterhaltungsanspruch, aber der Versuch einer Kommunikation, nicht selten von Kommunikationsgestörten.
Dream Home
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Dream Home ist hingegen ein massenkompatibler Film, jedenfalls in seiner Heimat Hong Kong, wo der Mittdreißger Pang Ho-Cheung schon lange als einer der aufregendsten Regisseure seiner Generation gilt. Seine jüngste Arbeit nimmt die Zwangsräumung vieler alter Hafensiedlungen der ehemaligen britischen Kronkolonie zum Ausgangspunkt für eine wilde, vulgäre Mischung aus sozialrealistischem Melodram und wüstem Splatterfilm. Li-sheung (Josie Ho) hat drei verschiedene Teilzeitjobs und kommt in dieser Stadt mit ihren explodierenden Mietpreisen dennoch kaum über die Runden: ihre Familie wurde vor Jahren delogiert, weg aus dem Hafenviertel, das ihr Großvater über alles geliebt hat, in dem dann Wolkenkratzer voller Luxuswohnungen hochgezogen wurden. In der neuen Wohnung erkrankt ihr Vater aufgrund der Asbestkonzentration schwer, die Versicherung bezahlt die Operation nicht, da eine Klausel im Polizzenvertrag übersehen worden ist: man ahnt schon, Li-sheung ist am Ende mit ihren Nerven, befindet sich in einem psychischen Ausnahmezustand, der bald zu einem gewaltsamen Ausbruch führen wird. Bewaffnet mit Vorschlaghammer und anderem Werkzeug verschafft sie sich Zugang zu einer ihrer Traumwohnungen mit wunderschönem Hafenblick und „delogiert“ die jetzigen Mieter. Gedärme klatschen auf den Boden, Augäpfel werden ausgestochen, Kehlen aufgeschnitten, einer schwangeren Frau wird mit einer Vakuumverpackungsturbine die Luft geraubt. „Dream Home“ ist ein prickelnder Horrorthriller mit sozialkritischem Unterboben, ein wilder Ritt durch alle Höhen und Tiefen des Genres.
Game Over
Am kommenden Sonntag werden die Palmen verliehen: viel internationale Aufmerksamkeit, sicherlich einige verdiente und andere unverdiente Gewinner, wie immer, so sind die Regeln des Spiels. Ich persönlich werde aber andere Bilder und Eindrücke mit nach Hause nehmen, aus Filmen, die nicht oder nicht immer in den prestigeträchtigen Sektionen zu finden gewesen sind: ein junger Mann, der seine ausgeweideten Gedärme mit Eiswürfeln frisch zu halten versucht. Ein Zisterziensermönch im Dialog mit dem Anführer einer islamistischen Terrorgruppe, wobei beide Männer Zweifel an der Absolutheit ihres Glaubens beschleichen. Und auch ein gealterter Kämpfer, schwer verwundet, in Agonie betend vor einer Adlerstatue, erfüllt von Visionen vom Ende der Welt, gleichzeitig der Beginn eines neuen Universums. In Cannes bin ich in diesem Jahr auf dem „Eagle Path“ gewandert und werde mich bemühen, einige meiner Entdeckungen mitzubringen.