Erstellt am: 19. 5. 2010 - 19:59 Uhr
Party Pieces
Die Einladung kam so völlig aus dem Blauen raus, dass ich gar nicht dazu kam, mir meine derzeitige Position zu The Divine Comedy zu überlegen. Ich meine, sollte ich eine haben? Als ich mich gerade anschickte, darüber nachzudenken, lief ich vor der Venue dem französisch-schweizerischen Kollegen über den Weg, der sich in den letzten über 13 Jahren keinen Deut verändert hat. Und wir sprachen über Hanspeter, den anderen örtlichen Schweizer, der letztes Jahr das unfassbare Glück hatte, gerade an einer Michael Jackson-Biographie zu schreiben, als der das Zeitliche segnete und so prompt einen Bestseller gelandet hat.
Richtig, „Glück“ sagten wir dazu. Elende Zyniker, diese Musikschreiberlinge.
Die Begegnung mit dem altbekannten Gesicht und das unvermeidliche anschließende Geplapper über die sich verändernden Zeiten in unserem eigenartigen Geschäft machte mir über die Hintertür bewusst, welche Rolle The Divine Comedy bzw. Neil Hannon seit ca. 1993 (mein Einstieg war „Liberation“) in meinem Leben spielt, nämlich die einer immer präsenten Konstante, ohne die man nicht sein wollte, auch wenn man sie manchmal kaum bemerkt.
Neil Hannon war immer da, vor Britpop, nach Britpop, mit Gitarrenband, mit Orchester, bei Setanta, bei der EMI, in London, in Dublin, manchmal musikalisch ambitioniert und herzzerreißend tragisch, manchmal bloß als Veredler humoriger Wortspiele.

Robert Rotifer
Als ich also die Stiegen rauf und durch die Schwingtüren in den Saal des Westlondoner Tabernacle drifte, ist es nur passend, dass der Song, den Neil Hannon da im weißen Lichtkegel am schwarzen Flügel in weißem Hemd, schwarzem Anzug und mit Melone auf dem Kopf vorträgt, beide Seiten seines Schaffens zugleich repräsentiert:
Es ist ein satirisches Lied über einen Banker, „a complete banker“ natürlich (Wortspiel auf „complete wanker“=“totaler Wichser“) ein "conscience-free malignant cancer", aber solcherlei Plumpheiten sind erlaubt bei einem, der die längste Zeit in Irland verbracht und dabei den Kollaps des keltischen Wirtschaftswunders miterlebt hat.
Fate doesn't hang on a wrong...
Ich weiß nicht, ob ich es im Obigen klar genug ausgedrückt habe, aber an diesem Abend spielt Neil Hannon vollends solo, ein Wunderkind und seine Flasche Rotwein vor Samtvorhang. „Tonight We Fly“ segelt durch die Tonartenwechsel wie eine Dschunke auf Libellenflügeln durch den Hafen von Shanghai (keine Angst, es sind nur Drogen), und schon kommen wir zur neuen Single:
„At the Indie Disco“, das selbstironische Protokoll des erbärmlich gescheiterten Versuchs, beim verlegenen Tanzen zu linkischer Gitarrenmusik einen Sexualpartner zu finden. „Mein Herzschlag“, singt Hannon, „klang wie der Beat zu Blue Monday.“ Und zur Illustration hämmert er mit seinen beiden Zeigefingern ebendiesen Beat in perfektem Timing aufs Mikrofon.

Robert Rotifer
Ich könnte nun das ganze Set beschreiben, aber das wäre bei 19 bis 20 Songs wohl ein bisschen überambitioniert, also belassen wir es dabei, dass die Heuschnupfen-Nummer, das „Alfie“-Lied, der National Express-Song und vor allem die Nummer aus der verzichtbaren Cricket-Lieder-Platte („The Duckworth Lewis Method“) bei dem besonnen bourgeoisen Publikum, das The Divine Comedy heutzutage anzieht, weit besser ankommen als bei mir.
...or right choice
Einig sind wir uns dagegen über an der Gitarre vorgebrachte melodiöse Mirakel wie „A Lady of a Certain Age“ oder das nicht zuletzt dank der zum Niederbrechen schönen Akkord-Voicings in diesem Moment gerade entschieden schönste Lied der Welt „Songs of Love“. Selbst konstruiertes Kunsthandwerk wie „Everybody Knows That I Love you“, die Mini-Oper „The Plough“ oder die von Hannon als der politisch unkorrekteste Song aller Zeiten angesagte „Frog Princess“ entwickeln solo ihren intimen Reiz (sorry, die Verwendung des i-Worts ist bei Solo-Performance-Rezensionen gesetzlich vorgeschrieben).
Fortune depends on the tone...
Was Neil Hannons neue Songs anlangt, klingt „I Like“ als Liebeslied in Listenform verdächtig nach Fingerübung, das Cover von MGMT's „Time to Pretend“ ist selbst für einen guten Gag einen Deut zu lang, und der Schlusssong „Can't Stand Upon One Leg“ wird beim dritten Mal Hören wohl auch nicht mehr so lustig sein, selbst wenn Neil Hannon live mit seinem „party piece“, einen absurd hohen Kopfstimmenton absurd lang zu halten, den Saal verdienterweise zum Johlen bringt.
...of your voice
Was bleibt, ist die ein bisschen ernüchternde Gewissheit, dass Hannon seine eigene Musik offenbar nicht auf die gleiche Art verehrt wie ich, der ich all das songschreiberische Know-How und die Performer-Fähigkeiten eh bewundernswert bzw. den nordirischen Sarkasmus seiner Bühneansagen supersympathisch finde, im Grunde meines Herzen jedoch lieber „Europop“, „Your Daddy's Car“, „Europe By Train“ (solo am Klavier, wieso nicht?) hören und mir ihren Schöpfer als entrückten Dandy vorstellen würde - so wie damals, als ich noch keinen anderen Anhaltspunkt hatte als das Plattencover.
Tags darauf sah ich dann im Fernsehen einen Randy Newman-Gig vom letzten Jahr, allein am Klavier, abgesehen vom BBC-Orchester, das hin und wieder dazu stieß. Der klare Gewichtsklassenunterschied zwischen Newmans von sich selbst zutiefst enttäuschtem Zynismus und Hannons spielerisch neckischem Spott war nicht zu leugnen. Mit wem ich als Frau lieber verheiratet wäre, ist allerdings eine ganz andere Frage.