Erstellt am: 18. 5. 2010 - 18:30 Uhr
Die Regeln des Spiels
Weitere Berichte von den Filmfestspielen in Cannes
Es baut sich alles vor einem auf, wie einer der bedrückenden Wolkenkratzer aus Oliver Stones "Wall Street": ist man in Cannes, sitzt man im Kino, sieht man einen Film, versäumt man gleichzeitig hundert andere. Wie entscheiden? Vorbildliche Kollegen sitzen den gesamten Wettbewerb, der in diesem Jahrgang 19 Filme umfasst, aus. Für mich undenkbar, da ich den Glauben an eine künstlerisch überzeugende Selektion verloren habe. Die Competition Officielle von Cannes ist vielleicht renommierter, deshalb aber nicht unabhängiger als die Wettbewerbe von anderen Großfestivals: es geht hier um Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten, mächtige Weltvertriebe drängen ihre Kinder ins Rampenlicht, stellen der Auswahlkommission gerne ein Ultimatum: wollt ihr diesen Film, dann müsst ihr den anderen auch nehmen. Es ist ein Spiel, und Spiele soll man ja bekanntlich nicht zu ernst nehmen. Außerdem: wenn jeder in dem einen Wettbewerbsfilm hockt, wer sieht dann all die anderen? Wenn alle in die Filme von bekannten Autoren strömen, wer soll da noch neue Talente entdecken? Ich könnte jetzt aufzeigen und sagen: Ich. Stimmt aber nicht: als Herdentier, das irgendwann einmal eine kleine Dosis Godard zu sich genommen hat, musste ich das jüngste Werk der Regielegende (ob verdient oder nicht) sehen. Allein schon, um im Fall des Falls eine Gegenmeinung parat zu haben.
Film Socialisme, une Catastrophe
Schon wenige Stunden nach der ersten Pressevorführung von Film Socialisme, der direkt nach seiner Weltpremiere gleichzeitig in die französischen Kinos kommt und als VOD (Video On Demand) angeboten wird, führte Godard die in einem Kreis von Filmkritikerkollegen, Filmfestivalleitern und Akademikern erhobene Rangliste des Online-Magazins Letras de Cine mit einem Durchschnittswert jenseits der 9 (das heißt, fast jeder hat ihm die Höchstwertung, eine 10, verliehen) an: ich wählte eine 0,3, die Zahl hinter der Kommastelle resultiert alleinig aus der Freude, die mir zwei in ihrer lakonischen Weltabgewandtheit ziemlich heitere Momente im Film beschert haben. In der ersten wird eine Balzac-lesende Französin, die an der Zapfsäule einer Tankstelle lehnt, von zwei deutschen Touristen vergeblich nach dem Weg an die Cote d´Azur gefragt, worauf sie an ihr vorbeibrausen und ein "Scheiß Frankreich!" aus dem geöffneten Fenster plärren. Die zweite ist das letzte Bild des Films, eines von Godards bekannten Schrift-Inserts: NO COMMENT steht da in fetten Lettern vor einem, nachdem man sich 100 Minuten lang eine an die "Histoire(s) du cinéma" erinnernde, symbolisch verdichtete und lyrisch organisierte Collage aus Handyvideos und stoischen Spielszenen, Altnazis auf Kreuzfahrtschiffen und miauenden Katzen angesehen hat. Sinn, das ist für Godard bekanntlich ein Unwort, aber nicht einmal intellektuell, geschweige denn emotional, stellt sich nach diesem Unfall ein Mehrwert ein. Gefühlt wird hier nicht, nachdenken kann auch nur der, der Godards Biblio- und Filmothek intus hat, um zumindest einige der kryptischen Referenzen quer durch die Menschheits- und Filmgeschichte zu entschlüsseln.
Cannes
Schon im Vorfeld wurde ja von jenen Anhängern des Regisseurs, die ihn schlicht "God" nennen, kritisiert, dass "Film Socialisme" nicht im Wettbewerb, sondern in der Nebenschiene "Un Certain Regard" deponiert wurde: eine vollkommen richtige Entscheidung des Festivals, meiner Meinung nach. Seine Jünger wurden vielleicht nicht vom Film, dafür aber von Gott persönlich enttäuscht: in Cannes sollte er einen seinen raren Auftritte (Legende, eh schon wissen) haben, den er aber in der letzten Minute in einem Fax an den Cannes-Chef Thierry Frémaux wieder absagte mit der Begründung, er habe "Probleme der griechischen Art". Vielleicht auch besser so, denn damit scheint mehr Licht auf die hervorragenden französischen Wettbewerbsfilme dieses Jahres: die Gallier sind hier traditionell zahlreich vertreten, in diesem Jahr sind sie aber so stark wie selten zuvor.
Götterdämmerung
Bereits am ersten Tag zeigte der Star-Schauspieler Mathieu Amalric in Tournée eine Truppe an wort- und körpergewaltigen amerikanischen Neo-Burlesk-Tänzerinnen auf Frankreich-Tournee, vor wenigen Tagen begeisterte mich Altmeister Betrand Tavernier (dessen hervorragend surrealer Krimi "In the Electric Mist" bei uns leider nie zu sehen war) mit seinem Historienfilm La Princesse du Montpensier. Heute Morgen allerdings hat mich ein Film auf eine Art bewegt, mitgenommen, verstört und erfreut, wie schon lange keiner mehr: basierend auf der wahren Geschichte von Zisterziensermönchen in Algerien, die 1996 von einer islamistischen Terrorgruppe in Geiselhaft genommen und ermordet wurden, erzählt der Franzose Xavier Beauvois Des hommes et des dieux, je nach Übersetzung von Menschen oder von Männern und Göttern.
Cannes
Der Abt (ruhige Oberfläche, subkutane Erdbeben: Lambert Wilson) und die Mönche (darunter auch der immer großartige Michael Lonsdale als medizinisch geschulter Bruder) führen das auf einem Hügel über einer kleinen Ortschaft angelegte Kloster, ein Überbleibsel aus der Besatzungszeit, ganz nah an den Bedürfnissen der Menschen: die Männer sind Ansprechpersonen, leisten medizinische Hilfe und versuchen sogar, die korrupte Regierung zu den moralisch richtigen Entscheidungen zu bewegen. Nachdem im ganzen Land Unruhen ausbrechen und kroatischen Arbeitern die Kehlen durchgeschnitten werden, wird den Brüdern schnell klar, dass auch sie in Lebensgefahr schweben. Der Rest des Films besteht aus ruhenden Einstellungen von Kontemplationsmomenten, Gebeten und Gesprächen: sollen sie nach Europa fliehen und ihre "Schäfchen", die genau genommen nicht einmal denselben Glauben haben, wie sie selbst, im Stich lassen. Oder im Kloster bleiben, in Todesangst leben und aller Wahrscheinlichkeit nach sterben?
Beauvois ist kein Spekulant: die Reizthemen, die seinen Film durchströmen, bricht er herunter auf radikal persönliche Entscheidungen. Wenn der Abt dem Terroristenführer die Herausgabe von Medikamenten verweigert, dann sieht man in beiden Gesichtern Zorn und Verständnis, Hoffnung und Angst, Wut und Trauer. Das Spirituelle und das Martialische sind in "Des hommes et des dieux" nur einen Steinwurf voneinander entfernt: in einer der besten Sequenzen des Films surren mehrere Armeehubschrauber über das Kloster hinweg, durchbrechen die Stille, woraufhin die Mönche in einen Gebetsgesang einstimmen, mit ihren Mitteln ankämpfen gegen das Chaos um sie herum. Jeder folgt seinem Glauben, wenn es sein muss, bis in den Tod.
Mord im Akkord
Wie bunt, wild und vielgestaltig das französische Kino in der Jetztzeit (wieder) ist, das beweisen nicht zuletzt zwei herausragende Genrefilme in Cannes: einem davon, dem eilte schon ein guter Ruf voraus. Nicht, dass jemand bereits Franck Richards betont altmodischen und entschleunigten Schocker La Meute gesehen hätte. Aber die ursprünglich am Strand geplante und damit für die breite Öffentlichkeit zugängliche Vorführung musste kurzerhand abgesagt werden (Pressemenschen hatte eine kurze Mitteilung im Postfach), da die französische Zensurbehörde aufgrund der Gewalt im Film Einspruch eingelegt hatte. Was also braucht ein Horrorfilm-Liebhaber mehr, um angestachelt zu werden? Zum Glück hält das Endresultat den hohen Erwartungen (fast) stand.
Die junge Charlotte fährt in ihrem schrottreifen Auto über neblige französische Landstraßen, ignoriert gleich zu Beginn eine goldene Überlebensregel und nimmt einen verwegen drein blickenden Anhalter (Sänger und Schauspieler Benjamin Biolay) mit, der in einem kleinen Saloon (ja, durch den ganzen Film sind Referenzen auf Western verstreut) spurlos verschwindet. Zuerst lässt sich Charlotte von der resoluten Lokalbesitzerin (Yolande Moreau in vielleicht ihrer größten Rolle) abwimmeln, kehrt aber nächtens zurück, um dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Wie sich schnell heraus stellt, ein Fehler.
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Wiewohl sich die Geschichte generisch anhört, bringen Richards wüste Figuren (darunter auch eine Rockergang, deren Mitglieder nicht nur wie aus einem Bikerfilm aus den Sechziger-Jahren aussehen, sondern auch klingende Namen tragen wie Bazooka Jim und Philippe Nahon, französisches Schauspielurgestein mit Vorliebe für Genrekino und im Film einer der irrsten Sheriffs der jüngeren Geschichte) frischen Wind ins staubige Ambiente. Die Referenzen des Regisseurs reichen dabei von quer durch die Identität stiftende, glücklich machende Horrorklassikerdatenbank: von Clive Barkers "Hellraiser" und Joe Dantes "Gremlins" hin zum Gesamtwerk von Sam Raimi. "La Meute" ist ein viel versprechendes Debüt, Franck Richard jedenfalls ein Regisseur, den sich Horrorfreunde merken müssen.
Gib mir Gummi!
Einen ungleich abstrakteren Pfad schlägt Quentin Dupieux (besser bekannt durch sein DJ-Projekt Mr. Oizo, dessen "Flat Beat" sich Ende der 90er-Jahre durch sämtliche Clubs nickte) ein: in Rubber erzählt er vom telekinetisch veranlagten Robert, ein ordinärer Gummireifen, der eines Tages aus seinem Grab in der kalifornischen Wüste erwacht, nach ersten unglücklichen Rollversuchen an Geschwindigkeit zulegt und zum Hauptdarsteller in dieser betont unsinnigen Genre-Komödie wird.
Semaine de la Critique
Umklammert sind Roberts Abenteuer von einer Meta-Erzählung, die für meinen Geschmack ein bisschen zu siebenschlau daher kommt, aber dennoch sympathisch ist: ein Sheriff (perfekt verkörpert vom Fernsehgesicht Stephen Spinella) spricht direkt zur Kamera, also zum Publikum, weist darauf hin, dass die erfolgreichsten Filme ihre entscheidenden Story-Elemente (etwa E.T.´s braune Hautfarbe) nie erklären. NO REASON lautet demnach auch das Mantra von "Rubber": der Sheriff und seine Vasallen agieren augenscheinlich im Auftrag eines unsichtbaren Meisters, halten zwei Dutzend Schaulustige in der Wüste fest und lassen sie den Reifen und seine Taten (gemeinsam mit uns) beobachten. Robert sitzt im Motel und sieht fern, schwimmt im Pool, vor allem aber bringt er jedes Lebewesen in einem Umkreis von wenigen Metern zur Explosion. Anfänglich sind es noch Kaninchen und Raben, bald platzen aber auch die ersten Menschenköpfe und die Polizei jagt dem Reifen hinterher. So schrill sich die Geschichte anhört, so konzentriert und kühl wird sie dann von Dupieux und seinem außergewöhnlichen Team realisiert. Die Tricks sind rührend altmodisch, aber immer überzeugend und der Humor so grenzwertig, dass man ihn, selbst wenn man ihn nicht lustig findet, irgendwie mögen muss.
Beim nächsten Mal lest ihr hier meine Gedanken zu den asiatischen Filmen in Cannes. Unter anderem Takeshi Kitanos Rückkehr zum Yakuzafilm "Outrage" und Pang Ho-Cheung´s ultrabrutalem Slasher "Dream Home".