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Pia Reiser

Filmflimmern

20. 5. 2010 - 15:02

Der Koch, sein Sohn, Frauen und Liebhaber

John Irvings "Letzte Nacht in Twisted River" ist ein "All you can eat"-Buffet für ausgehungerte Fiktionsverehrer. Lasst es euch schmecken.

"1. Bärerwähnung: Seite 19" ist meine erste Notiz zu "Letzte Nacht in Twisted River". Es wird auch meine letzte Notiz während des Lesens bleiben, nach Seite 19 verschluckt mich der Roman, zieht mich rein in die Welt des fantastischen Fiktionsfabrikanten John Irving, ich verschwinde Bastian Balthasar Bux- oder Alice im Wunderland-gleich. Lesen wird als Adjektiv einem John Irving Roman nicht gerecht.

Bären und immer wieder Bären: Wer sich vom Irving-Oevre verschlingen hat lassen, kennt und wartet auf die Eigenheiten dieser Welt, die im Laufe der Jahre zu Irving-Markenzeichen und Gütesiegel geworden sind. Wie man bei Tarantino nunmal damit rechnen muss, dass früher oder später dem nackten Damenfuß Tribut gezollt wird, so sicher wie bei Tennessee Williams eine angeschickerte Southern Belle um die Ecke biegt, so ist in der grotesk-opulenten Romanwelt des John Irving immer Platz für Bären. Und Ringer, Hunde, Unfälle, virile, große Frauen, abgetrennte Gliedmaßen.
All das hat er auch in seinem zwölften Roman "Letzte Nacht in Twisted River" arrangiert und zu einem Erzählsog orchestriert, der neben der Geschichte eines Kochs und seines Sohnes auf der Flucht auch die Geschichte des Schriftstellers John Irving ist. Aber fangen wir da an, wo Irving, der als Ausgangspunkt seiner Geschichten immer den letzten Satz nimmt, nie beginnt: am Anfang.

Eine Idee, ein letzter Satz

Schriftsteller John Irving

Jane Sobel Klonsky

Als der Schriftsteller seine zweite Frau Janet kennenlernt, äußert er ihr gegenüber die Idee von einem Koch und dessen Sohn auf der Flucht. Das war im Jahr 1986. 24 Jahre und fünf Romane später dann gibt es endlich den letzten Satz zu der Idee und der disziplinierte Schreibmachinen-Dickens stellt uns den Koch Dominic Baciagalupo und dessen Sohnes Daniel vor. Ein Unfall, der irvingesk Tod, Sex und Groteske (und irgendwie auch: Bären) verbindet, zwingt die beiden im Jahr 1954 aus dem Holzfällercamp in New Hampshire, in dem Schroffheit und ein Schurke namens Constable Carl regieren, zu fliehen. Von Boston nach Exeter über Iowa und Vermont bis nach Toronto. Diese Flucht darf man sich nicht in einer atemlosen "Dr. Richard Kimble"-Facon vorstellen; sie zieht ihre Besonderheit nicht aus dem Tempo, sondern aus ihrer Länge; die Flucht endet erst 46 Jahre nach dieser letzten Nacht in Twisted River.

Und so sind Dominic und Daniel keine gehetzten Flüchtenden, sondern viel eher wahnsinnig langsame Nomaden, die ab und zu ihre Namen ändern. Das Spiel mit Namen, das Irving ohnehin liebt und beherrscht ("Hester the Molester", anyone?) wird hier zu einem der roten Fäden, die die dichte Geschichte weben. Namenswechsel, Spitznamen, Kosenamen, Alliterationskonstrukte, Künstlernamen. Dominic ist nicht nur Dominic, er ist auch Paps, Cookie, Tony und schließlich wieder Dominic. Er ist ja schließlich auch Koch, Vater, Liebhaber, Freund; ein Name wird einer Irving -Figur schlicht und einfach nicht gerecht. Namen erzählen ganze Geschichten und Figuren versuchen mit Namensmodifikationen auch die eigene Geschichte zu ändern: Während die italo-amerikanische Verwandschaft von Dominic und Danny stolz ist auf ihre Namen, lässt der irischstämmige Mister O'Leary gleichmal das "O" in seinem Namen streichen. Und die Fensterscheiben des "Mao", ein Lokal, in dem Dominic kocht, werden Anfang der 70er jahre des öfteren eingeschlagen - alles nur wegen des Namens.

Es ist doch nur ein Name

Und so erzählt Irving anhand kleiner Namensanekdoten auch immer die Geschichte der USA mit, eine Geschichte, die ihn so wütend macht, dass er sich oft erst Jahrzehnte später als Autor damit auseinandersetzen kann. "A Prayer for Owen Meany", in dem er seine Kritik am Vietnamkrieg einwebt, erschien 1989 und erst 2010 findet der 11. September seinen Weg in einen Irving-Roman. Die Wut ist immer noch da, Irving analysiert nicht, sondern lässt seinen Zorn die Figur äußern, die als einzige von Namensänderungen verschont wird, die für alle gleich heißt: Ketchum. Ein Name, der aber auch nicht von ungefähr kommt. Ketchum, Idaho ist der Ort, in dem Vollbartträger, Abenteurer, Macho und Schriftsteller Ernest Hemingway gestorben ist, der die Meinung vertrat, man solle nur über Dinge schreiben, die man selbst erlebt hat. Da gehen Irving und Hemingway nicht d'accord. Und so wird bei Irving immer in den Fiktionsteig ein wenig Autobiografisches untergehoben; beim fertigen Geschichtenkuchen kann man die Zutaten dann nicht mehr trennen. Irving glaubt auch zu sehr an die Wucht, Macht und Kraft von Fiktion, als sich ausschließlich auf seine eigene Biografie als Erzählstoff zu verlassen. Und den echten Irving aus seinen Romanen rauszulesen wird zur spekulativen Arbeit mit den Pinzette: "Es ist zu einfältig zu glauben, einzig die halbwegs präzisen Schilderungen dessen, was dem Autor rarsächlich widerfahren ist, seien die autobiografischen Elemente eines Romans. Die Beschreibungen dessen, was einem hoffentlich nie widerfahren wird, die Schilderung deiner Ängste - das halte ich für ebens autobiografisch", so Irving im Gespräch mit Ariel Leve im Diogenes Magazin.

Das mürrische Raubein Ketchum wird nach dem Unfall in Twisted River zur Beschützerfigur für Koch und Sohn und wieder webt Irving ein Familienkonstrukt fernab vom klassischen Vater-Mutter-Kind-Modell. Ein fehlender Elternteil ist ebenso fixer Baustein im Irving-Universum wie die obligatorischen Bären. Und ebenjener kauzige, lederne Ketchum wird zu Irvings Alter Ego, wenn es darum geht, die Wut im Bauch, die sich über George W. Bushs Politik angestaut hat, herauszulassen.
"... und wenn jemand etwas sagt, aus dem eine republikanische Mentalität spricht, werd ich ihn mit einem Scheiß-Hühnerknochen bewerfen", so Irving. Und aus Ketchums Mund klingt es ähnlich: "Solange dieses Häufchen Mäusekot das Sagen hat, wird es noch eine Myriade Fehler geben."

Damoklesschwerter

Cover des Buches "Letzte Nacht in Twisted River", Zeichnung eines kleinen Jungen, der einen Schlitten über Eis zieht

Diogenes Verlag

Ein Riss geht bei der Schilderung der Flugzeuge, die in das Word Trade Center fliegen durch die Romanwelt Irvings. Selbst wenn all seine Roman in einer "echten" Welt angesiedelt sind, so ist er so erfolgreich im Kreieren eines eigenen Universum, dass das Hereinbrechen eines realen Ereignisses - oder besser: eines Ereignis, das man selbst medial miterlebt hat - fast surreal wirkt. Der inzwischen erfolgreiche Schriftsteller Daniel wird das ewige Einholen der Presse von Schriftstellermeinungen zu Bush, Terrorismus und Irak müde und macht es wie Irving: Er zitiert Ketchum und flucht. Und noch einiges mehr macht Daniel wie Irving, der hier seine Schriftstellerkarriere, seine Einstellung zum Literaturbetrieb und zu Literaturverfilmungen spiegelt.

Es sind Fragmente einer Selbstbeschreibung eines Autors. Doch Autobiografie heißt noch lange nicht Chronologie, der Konstruierer von Geschichtenbögen, der Dompteur von Tragik und Komik knüpft auch hier nicht einen linearen Erzählstrang; raffiniert lässt er manchmal schon Damoklesschwerter sichtbar anbringen, um sie erst Seiten (für uns) bzw Jahre (für die Figuren) später herabknallen zu lassen. "Letzte Nacht in Twisted River" ist weniger twisted als sein Name und Irvings Vorgängerromane vermuten lassen, zwar umranken Groteske und Skurillität auch hier die Geschichte, doch in weniger sich überschlagender Art und Weise. Ein langer, ruhiger Erzählfluss ist es deswegen aber noch lange nicht. Wie so oft bei Irving ist die Kindheit prägend und persönlichkeitsformend für seine Figuren und wie immer hängt die Angst, dass diesen Kindern was passieren könnte auch über "Letzte Nacht in Twisted River". Dieses Heranziehen der Kindheit, ihrer Ängste und Traumata, Unschuld und das Verschwinden dieser füttert Irvings Erzählobsession. Er, der relativ früh (mit 22 Jahren) und dann nochmal eher spät Vater wurde, war immer von Kindern umgeben. Erst dieses Jahr wird sein 18-jähriger Sohn Everett von Zuhause ausziehen. Um fehlende Inspirationsquellen muss man sich aber keine Sorgen machen; John Irving passieren auch in seinem Alltag Dinge, als wären sie seinem Schriftstellerkopf entsprungen: Hunde, die einem den Katheder raus- und einem auf den Küchenboden reißen, weil sie den Gummischlauch für ein Spielzeug halten, zum Beispiel. (Hier zum Nachlesen)

"Letzte Nacht in Twisted River" ist im Diogenes Verlag in der Übersetzung von Hans M. Herzog erschienen

Let's twisted river again

Mit seinen Büchern im Schoß wird man zum Kind am Schoß, das die Fiktion umarmt und ständig ein "Und dann?" auf den Lippen hat, darauf brennt zu wissen, wie die Geschichte weitegeht, andererseits aber auch will, dass sie nie zu Ende geht. "Last Night in Twisted River" macht das auch tatsächlich möglich, eine wunderschöne "Buch im Buch"-Konstruktion macht den Roman schließlich zur Möbiusschleife. Nach der letzten Seite kann man gleich wieder vorne beginnen. Am Anfang, wo Irving nie beginnt. Wenn wir Glück haben, schnitzt er schon wieder an einem neuen, letzten Satz.