Erstellt am: 17. 5. 2010 - 20:43 Uhr
"Bückt euch für den SK Sturm!"
Champions League Halbfinal-Hinspiel zwischen Sturm Graz und PSG. 87. Spielminute, es steht noch immer 0:0. Andreas Hölzl trippelt vorsichtig Richtung Strafraum. Plötzlich ein Haken nach rechts, vorbei an Sammy Traoré und den Ball schnell nach links zur Mitte gespielt. Dort hat sich der zuvor eingewechselte Mario Haas klammheimlich in Lauerstellung begeben. Der Ball kommt, Haas sprintet los, rutscht aus und spitzelt den Ball irgendwie ins Netz. Die UPC-Arena tobt, die Hoffnung auf das Finale lebt weiter. So viel zur fußballerischen Realität zweiter Ordnung, soviel zu meiner aktuellen EA Sports FIFA 10 Saison.
Die tatsächliche Realität ist ungemein weniger glamorös, heißt aber immerhin Cupfinale gegen Magna Wiener Neustadt. Und das ist immer eine Reise wert. Vor allem, wenn es in ein riesiges, ab nächster Saison eher unterbeschäftigtes Stadion geht. Und weil zu einem richtigen Fußballerlebnis auch eine ordentliche Vorfreude gehört, fahre ich nicht selber mit Auto oder Zug, sondern checke bereits in Graz in den allerorts prognostizierten Höhenflug Richtung Klagenfurt ein.
Radio FM4/Roland Gratzer
Windkanäle und poetische Erleichterungen
Sonntagvormittag auf dem Parkplatz eines der fast stündlich aus dem Boden schießenden Grazer Einkaufszentren. Es ist scheißkalt, meine zukünftigen Bus- und Tribünenkollegen warten zitternd auf einen der rund 200 Busse, die heute die halbe Steiermark nach Kärnten transferieren. Die Stimmung ist trotz guter Ausgangslage verbesserungswürdig. Einige sind noch sichtlich lädiert vom vortäglichen Kleinfeldturnier und die gewagte Architektur verwandelt das ehemals grüne Ödland an der Autobahneinfahrt Graz Ost in einen Outdoor-Windkanal.
Der letzte Mitfahrer ist endlich da, los geht die Unterstützungsfahrt ins südliche Nachbarland. Die prognostizierte Anreisezeit von vier Stunden fällt recht großzügig aus, macht aber durchaus Sinn. Kaum ein Parkplatz, der nicht angesteuert wird. Dort treffen sich die Insassen aller Busse, stimmen die ersten Gesänge an, stehen Spalier für vorbeifahrende Autos und erleichtern ihren Harndrang im fast schon poetischen Ambiente der hügeligen Pack-Landschaft.
Radio FM4/Roland Gratzer
So ganz ausgelassen ist die Stimmung im Bus aber nicht. Obwohl für ausreichend Bier und Wurstsemmeln gesorgt ist, wollen einige nicht an den fix eingeplanten Sieg glauben. Erst als via Mikro zwei verschiedene Abfahrtszeiten durchgegeben werden (je nach Sieg oder Niederlage, bei Verlängerung alles eine Stunde später), kehrt der Zweckoptimismus zurück. "Natürlich werden wir gewinnen, was soll denn das?", hallt es durch den Bus, gefolgt vom Ploppen neuer Flaschen und dem heimeligen Rauschen des Wurstsemmel-Sackerls. Was die kulinarische Versorgung betrifft, will keiner dem Kärntner Stadion vertrauen. Und dieses Misstrauen wird sich wenig später vollends bestätigen. Wir kommen an.
"Hier gibt's ja nicht mal ordentliches Bier", hallt es mantragleich durch die improvisiert wirkende Fanzone vor dem Stadion. Mit "nicht ordenltich" ist die ortsansässige Marke gemeint, die so gar nicht dem Geschmack der ihrem Trikotsponsor treu ergebenen Sturm-Anhängerschaft entspricht. Da hat noch niemand gewusst, was sich diesbezüglich innerhalb des Stadionzauns abspielen wird. Dort gilt es erst aber mal reinzukommen. Die Menschentraube vor dem Wegweiser geht unschlüssig in mehrere Himmelsrichtungen, beim endlich gefundenen und letztlich auch richtigen Eingang beginnt das erste Aufflackern zivilen Ungehorsams. Die Opfer der von klassischen Fangesängen unterbrochenen Schimpf- und Schmähtiraden sind die Securities am Tor, die sichtlich Probleme mit dem von Metallzäunen manifestierten Trichtersystem haben und alle 30 Sekunden das Leitplankenkonzept von Neuem über den Haufen werfen.
Radio FM4/Roland Gratzer
Der Bier-Schock
Im Stadioninneren werden zuerst die sanitären Einrichtungen und dann die Lebensmittelausgabe-Hütten gestürmt. Und dann der nächste große Schock: Alkoholfreies Bier! Und das beim Stiegl Cup! Sehnsüchtig gehen die Blicke Richtung Busparkplatz, wo die stark dezimierten Vorräte schlummern. Aber egal jetzt. Noch eine Stunde bis zum Anpfiff. Einen guten Platz auf der Stehtribüne suchen. Sich über das Fehlen von Videowall und Anzeigetafel wundern. Die ziemlich überschaubare Fanschar von Wiener Neustadt beobachten. Über etwaige Aufstellungen und Transfers fachsimpeln. Das Kinder-Bier doch trinken. Neue Fangesänge einstudieren. Dem Brezenmann den ganzen Korb abkaufen. Dann wieder sanitäre Einrichtungen. Und halt doch noch ein Instant-Bier.
Die Wiener Neustädter betreten das Feld. Allgemeine Sympathiebekundungen bleiben aus. Dann Christian Gratzei. Der Tormann ist beliebt, kriegt das auch zu spüren und bedankt sich artig. Mario Haas geht in seiner Rolle als Teammaskottchen vollends auf, heizt die Menge auf und ehrt einzelne Fans mit einem "Servas, I kenn di"-Fingerzeig. Der Stadionsprecher ist alles andere als objektiv, nämlich der aus Graz. Glaubt man dem Publikum, haben alle Magna-Spieler den selben Nachnamen. Kurz vor dem Anstoß wird das Sichtfeld bedenklich eingeschränkt. Auf der Tribüne über uns wird ein langes Banner ausgerollt. Format 16:9 quasi. "Bückt euch für den SK Sturm", heißt die Devise, will man irgendwas vom Spiel sehen.
Radio FM4/Roland Gratzer
Wer hat Angst vor Patrick Wolf?
Doch das, was es in den ersten Minuten zu sehen gibt, entspricht nicht gerade der Erwartungshaltung. Der zuvor nach heftig unterstützte Gratzei schneidet Sadovic brutalst nieder, statt Elfer und roter Karte gibt es - warum auch immer - einfach nur Abstoß. Der Schiedsrichter scheint ja doch in Ordnung zu sein, lautet die erste Analyse der Tribüne. Ein Umstand, der sich für den Rest des Spiels innerhalb der leicht subjektiven Sichtweise kaum bestätigen wird. (Weana Mafia und so). "Wer hat Angst vor Patrick Wolf" wird zur sichtlichen Realität auf der rechten Seite.
Das Banner verschwindet endlich, dafür ergießen sich die ersten Bierduschen auf die unteren Ränge. Das war dann aber auch schon der Höhepunkt der ersten Hälfte. Fußballerisch ist das Spiel bisher verzichtbar. Und auch stimmungsmäßig sind die Profi-Besucher noch nicht angetan. "Alles nur Sonntagsfans auf der Längsseite" lautet das leicht enttäuschte Resumee der Unterstützungsbekundungen. Gegenüber auf der Wr. Neustadt Seite enthüllen die blauen Anhänger den Schriftzug "Willkommen Beider". (Wenn irgendjemand weiß, was damit gemeint ist, bitte im Forum posten). Der Gegner bremst die Grazer aber nicht nur auf dem Feld. Auch bezüglich Fangesänge eignet sich "SC Magna Wiener Neustadt" nur bedingt. Rhytmisch ist der Name etwas zu komplex, wirkliche Wiener sind sie ja auch nicht und den Anti-Stronach-Gesängen mangelt es irgendwie an Kreativität und Aktualität.
Jaja, die Erfahrung...
Nach der Pause wird es erst einmal kurz politisch. Über uns beginnnen die Tribünen rot zu leuchten, "Pyrotechnik ist kein Verbrechen" geht sich rhytmisch super aus und hallt durch die Arena. Der Platzsprecher warnt verantwortungsvoll vor Feuerwerkskörpern, der Strafraum gegenüber ist kurzzeitig in dichte Nebelschwaden gehüllt.
Das Spiel kippt langsam Richtung Sturm Graz. Praktischerweise spielen sich die paar Halb-Chancen direkt vor der Tribüne ab. Dann kommt Muratovic. ("Na geh, wieso denn der Murat?"), wenig später Mario Haas ("Versteh I net, owa wurscht: MARIO!"). Wieder wenig später bereiten die beiden das Tor von "Der reißt heit nix mehr"-Klemen Lavric vor. ("Die haben halt Erfahrung, das merkt man.")
APA / Gert Eggenberger
Radio FM4/Roland Gratzer
Dann ist mal kurz die Hölle los. Die Tribüne über uns bewegt sich bedrohlich auf und ab. Klar, das ist ein modernes Stadion, aber es hört halt auf den Namen "Hypo Group Arena", da wird man dann leicht ein bisschen stutzig.
Die Statik hält, der Security-Ring nicht. Die Welle geht viermal durch das Stadion, die Fans stürmen auf das Spielfeld. Von tausendfachem Gelächter begleitet versuchen die Ordner, zumindest pro forma ein paar Stürmer aufzuhalten. Als sich dann ein Rollstullfahrer durchkämpft, geben sich die Gelbjacken endgültig geschlagen. Erst jetzt realisieren die meisten, dass das da unten gerade der erste Titel seit elf Jahren ist. Legenden bilden sich ("Dieser Schal war bei allen vier Siegen dabei") und endlich haben alle kapiert, dass es beim Mitsingen nicht "Wir feiern die ganze Nacht" sondern "Wir haben den Stiegl Cup" heißt.
Gemächlich trotten wir zum Busparkplatz. Noch viel gemächlicher fahren wir im gefühlten Dauerstau zurück nach Graz. Solidarisch mit dem vernünftigen Busfahrer ("Die Trottel bleiben auf dem Pannenstreifen stehen") wird der Harndrang entweder unterdrückt oder der schwer lädierten Bustoilette gut zugeredet ("Zwei, drei Spülungen wird sie schon noch schaffen").
APA / Roland Schlager
Endlich daheim werfe ich die XBox an und stürze mich ins Halbfinal-Rückspiel. Nach zehn Minuten steht es 2:0 für PSG. Schnell den großen runden Knopf in der Mitte gedrückt und die Kiste neu hochfahren. Zweiter Versuch. Wiener Neustart quasi.