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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

18. 5. 2010 - 10:11

Heikle Geschichten

Bjarte Breiteigs "Von nun an" und "Mehr Liebe" von Frank Schulz: Zwei Erzählbände, deren Meisterschaft sich im Ungesagten zeigt.

Die literarische Gattung der Kurzgeschichte beschäftigt mich in letzter Zeit sehr häufig. Nicht nur aufgrund der unfassbar großen Anzahl an guten Erzählungen im Falle der "Wortlaut 2010"-Einsendungen, sondern auch weil zwei eben erschienene Erzählbände mich nicht mehr loslassen. Daniel Glattauer hat kürzlich gemeint, dass es eigentlich viel schwieriger sei eine Kurzgeschichte zu schreiben, als einen Roman. Ein Roman könne durchaus an manchen Stellen langatmig sein und sich ziehen, eine Kurzgeschichte müsse rasch auf den Punkt kommen und Füllmaterial vermeiden. Wenn sie dann auch noch den Leser verstört und nachdenklich zurücklässt, hat sie ihr Ziel erreicht.

Love Hurts

Frank Schulz: Mehr Liebe

Galiani Verlag

Frank Schulz: "Mehr Liebe - Heikle Geschichten" ist 2010 beim Berliner Verlag Galiani erschienen.

Der deutsche Autor Frank Schulz stellt seinem Erzählband ein Zitat der österreichischen Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach voran. Und das zeigt seine Wirkung: "Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe, als sie verdienen". Und in dieser Tonart ist auch sein Buch "Mehr Liebe" gehalten. Von "heiklen Geschichten" ist da in der Ansammlung von Kurzgeschichten, Novellen, Miniaturen und Collagen die Rede. Das Ganze ergibt einen Kosmos von romantischen und erotischen Blicken auf die Liebe bishin zu ihren Zerwürfnissen und Schattenseiten. Das Ganze sagt in diesem Falle mehr als die Summe der einzelnen Teile.

Besonders schön ist der Beginn: In "Seele mit Käse" kauft ein gewisser Brinkmann seine Brötchen jeden Tag nur in einer bestimmten Bäckerei. Die Backware ist nicht besonders prickelnd, aber die Verkäuferin ist es auf jeden Fall. Er hat noch nie ein Wort mit ihr gewechselt, aber heute soll es so weit sein. Er stellt sich in die lange Warteschlange, legt sich einen Spruch zurecht, sammelt seinen Mut: Er will sie zum Lächeln bringen. Bis er merkt, dass der Typ vor ihm das schon erledigt und sie sogar ins Kino eingeladen hat. Auf nur fünf Seiten schildert Frank Schulz, wie ein Traum zerplatzt und Brinkmann am Ende gescheitert von dannen zieht, mit der Absicht seine Brötchen zukünftig wieder im Supermarkt zu kaufen.

Frank Schulz

Frank Schulz

Frank Schulz

Solche Figuren findet man überall in "Mehr Liebe". Da ist die Rede von der Arzthelferin Katja, die in den Flitterwochen ihrem Traummann begegnet, der wiederum mit ihrem Gatten nicht identisch ist. Dann ist da noch Dörchen, die kurz vor der Goldenen Hochzeit eine Streichholzelschachtel eines lokalen Puffs in der Manteltasche ihres Mannes findet und anfängt im Rotlichtmilieu zu recherchieren. Aufgebaut wie ein Konzeptalbum sind alle Kurzgeschichten dem Thema "Liebe" untergeordnet und zeigen auf, wie tragisch das schönste Gefühl auf Erden sein kann. Und wir wissen alle, was Schulz damit meint.

Von nun an

Bjarte Breiteig - Von nun an

Luftschacht Verlag

Bjarte Breiteig: "Von nun an" ist 2010 bei Luftschacht erschienen.

Tipp:

Am 19.5. liest Bjarte Breiteig aus seinem Erzählband "Von nun an" in der Alten Schmiede in Wien. Mit dabei ist sein Übersetzer Bernhard Strobel, der auch aus seinem Erzählband "Nichts, nichts" lesen wird.

Bjarte Breiteig ist Norweger und sein Erzählband „Von nun an“ wurde gerade erst von Bernhard Strobel ins Deutsche übersetzt. Die Kurzgeschichten sind hier wirklich sehr kurz. Der Band ist gerade mal 100 Seiten dünn, aber trotz seiner Kürze umso gewaltiger. Man muss sich vorstellen, jede Geschichte würde in der norwegischen Kälte spielen und bei jedem Wort sieht man den kalten Hauch, der beim Sprechen aus dem Mund stößt. Alles in allem eine sehr bedrückende Stimmung auf gerade mal 100 Seiten. Nach jeder Erzählung bleibt man als Leser geschockt zurück. All diese Erzählungen sind auf ihre Weise schwer verdaulich, dabei sind es menschliche Schicksale, die keineswegs weit hergeholt scheinen.

Eine Erzählung handelt etwa von einem Begräbnis in einer Kleinstadt aus der Sicht des Leichenbestatters. An diesem Tag muss er die Mutter eines früheren Schulkollegen für das Begräbnis vorbereiten. Er kennt die Tote also. Und es passiert ein Missgeschick: Es löst sich schwarzes Erbrochenes aus der Toten und verschmutzt ihre Bluse. Sie soll aber in ein paar Minuten beerdigt werden. Also wäscht er die Bluse mühevoll und sie riecht natürlich furchtbar und das alles muss er nun dem ehemaligen Schulkollegen zumuten. Aber gleichzeitig macht er das alles mit einer stumpfen Herangehensweise. Es ist eben sein Job, den er sehr kalkuliert und emotionslos durchführt.

In einer anderen Erzählung vergewaltigt ein Mann seine manisch-depressive Frau und auch das wird sehr kühl geschildert. Die letzte Passage fasst in einem knappen Dialog alles zusammen. Etwas später schleicht sich der Mann nämlich wieder ins Zimmer und legt sich neben seine Frau. Er fragt: "Schläfst du?". Sie antwortet:"Ja".

Bjarte Breiteig

Bjarte Breiteig

Bjarte Breiteig

Hier gibt es keine Füllwörter, keine Durchhänger. Es sind dichte, intensive Geschichten um existentiell herausfordernde Situationen. Es sind Begegnungen zwischen Menschen, die plötzlich auftauchen und eine seltsame Schwere hinterlassen. Und wie immer lauert im Hintergrund der entseelten Vorort- und Kleinstadtlandschaften etwas Bedrohliches, das einen Sog voller Verzweiflung auszulösen vermag. Die Meisterschaft bei "Mehr Liebe"und "Von nun an" zeigt sich nicht im Gesagten, sondern im Ungesagten und was man damit macht.