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Christian Lehner Berlin

Pop, Politik und das olle Leben

16. 5. 2010 - 20:19

The National Annex

Eine Woche mit den Königen der Stadt: The National, Sufjan Stevens, The Antlers, Phosphorescent und ein krönender Abschluss im BAM.

Downtown Manhattan

Brooklyn? Eh, aber das wahre New Yorker iHerz pocht in einer kleinen Kammer im East Village von Manhattan. Der Other Music Record Store ist eine Institution in Sachen "andere" Musik sämtlicher Genrerichtungen und Obskuritätsfaktoren. Mindestens. Der kleine Plattenladen liegt unauffällig an der 4th Street zwischen dem brodelden Broadway und der hektischen Lafayette Street. Schräg gegenüber befand sich bis 2007 die Downtown Filiale von Tower Records, einer führenden US-Handelskette in Sachen Vinyl, CD und Musikvideo. Der vor allem in den 80ern als Szene Hang Out fungierende Laden musste allergings vor drei Jahren schließen. Tower Records ging den Weg vieler krisengebeutelter Retailer aus Beton, Glas und Vinyl und also bankrott. Etwas weiter nördlich am Union Square folgte im letzten Jahr der hiesige Virgin Megastore, ebenso wie jener am Times Square. Other Music, der kleine Spezialistenladen hat das Sterben der Großen vorerst überlebt. Und das sieht auch weiterhin ganz gut aus.

The National

Christian Lehner

The National

Christian Lehner

The National

Christian Lehner

Der Liebhaberstore wird von den möglicherweise freundlichsten und umtriebigsten Plattenverkäufern der Stadt betrieben: Chris Vanderloo und Josh Madell haben im Lauf ihrer 15-jährigen Tätigkeit als Record Store Besitzer schon so mancher Karriere auf die Sprünge geholfen. Nicht nur weil sie geschmacksorientiert immer wieder Releases neuer, unbekannter Künstler in die Regale stellen. Bei Other Music haben viele, heute nicht mehr ganz unbekannte Bands zu Beginn ihres Schaffensweges Platten einsortiert. So viel ich weiß fast alle Mitglieder von Animal Collective zum Beispiel, die natürlich auch sonst noch oft bei Other Music abhängen. Wer also einmal einem Panda Bären beim Aussuchen von CDs oder Vinyl übers Fell blicken will, ist bei Other Music an der richtigen Adresse. Außerdem sozusagen.

Other Music

Christian Lehner

Chris Vanderloo und Josh Madell vor ihrem Other Music Plattenalden im East Village

Es war dann auch die Nähe zur lokalen Szene, die zum High Violet Annex, einer ungewöhnlichen Aktion von The National geführt hat. Die fünf sanften Schleicher mögen ja aussehen, wie die hinterfadesten Kapuffniks dieser Welt. Doch Matt Berninger und Co. haben sich vor ihrer Karriere als vordergründig traurige Indie Rocker die Gehaltschecks bei führenden IT und Grafikfirmen abgeholt. Anders formuliert: Die Kreativwirtschaft beschränkt sich im The National Camp nicht bloß auf das Zersausen sorgfältig skizzierter Songs. Berninger und die Brüderpaare Dessner & Devendorf wurden auf den vakanten Spot neben dem Other Music Store aufmerksam und heckten gemeinsam mit den Plattenladenbesitzern und ihrem Label 4AD eine Eventserie zum Release von High Violet aus.

Schnell machte die Nachricht vom High Violet Annex die Runde durch die Stadt – auch wenn bis kurz vor Eröffnung nicht einmal Aaron Dessner selbst sagen konnte, welche Bilder gehängt, welche Filme gezeigt und welche Live Musik gespielt werden wird. Man wusste nur, dass es passiert. Und so geschah es auch.

Fünf Tage lang stand der Projektraum für die interessierten Fans offen. Dass The National selbst in diesem gut 100 Leute engen Rahmen spielen werden, wurde zwar nicht bestätigt, war aber allen Beteiligten klar. Der Other Music Laden freute sich über zusätzliche Laufkundschaft und bot während dieser Zeit Sondereditionen von High Violet im krassen Lila Vinyl Look an. How communal is that?!

The National

Christian Lehner

Phosphorescent

Christian Lehner

Phosphorescent

Christian Lehner

Den Tag mit Martha Wainwright und dem wunderbaren, französischen Duo Arlt (Serge Gainsbourgh meets Beirut meets Stereolab) habe ich verpasst, ebenso wie die Eröffnungssause mit DJ-Einlage tags zuvor. Aber die Aussicht The Antlers in jener intimen Atmosphäre zu erleben, die ihr formidables Schmerzenswerk "Hospice" zu einem der heilsamsten Alben des letzten Jahres gemacht hat, trieb mich lange vor Beginn des Donnerstagsprogramms in die Location an der 4th Street.

Phosphorescent

Christian Lehner

Ach und da bauten gerade Phosphorescent ihren Gerätefuhrpark auf, wickelten gefühlte 100 Kabelmeter um gezählte 18 Effektpedale, rückten die Schlapphüte zurecht und ließen der gut halbstündigen Aufbauarbeit einen einzigen fünfzehnminütigen Jam folgen. Dass Bandleader Matthew Houck dazu bloß den Kopf schüttelte, anstatt ihn geschlossenen Auges kreisen zu lassen, hatte mit dem defekten Mikro zu tun, das er trotz beschwörenden Blickes nicht wirklich zum Funktionieren brachte. Während also seine Kumpels werkten wie die Goldgräber, stieß Houck zarte Flüche gen den gedachten Himmel von einer Decke. Manchmal is es halt ein Scheißtag, trotz cooler Party cooler Freunde. Doch Phosphorescent dürfen sich immerhin über eine sehr gute, neue Platte names "Here’s To Taking It Easy" freuen. Den Single-Track daraus, Mermaid Parade, pfeift ohnehin schon jeder zweite, viel zu junge Methusalem auf den Straßen der Stadt.

Dann also The Antlers vor einer Videoprojektion, die ein sehr nacktes Mädchen zeigt und nach gut drei Minuten im Set auch schon wieder vorbei ist. Aus der ursprünglich geplanten Improvisation zu dem gezeigten Film wird notgedrungen eine Darbietung mit Stücken aus "Hospice". Was soll ich sagen. Sänger Peter Silberman ist ein Engel, dem die Stimmbänder Flügel sind. Keyboarder Darby Cicci errichtet mit seinen Synths, Samplern und Effektgeräten eine frostige Klangwelt, während Michael Lerner an den Drums darüber Schneeflocken rieseln lässt. Und Peter Silberman rührt mit seinem Falsett am Tränengrund in der Eishöle, wie es sonst nur ein Antony Hegarty oder ein Scott Matthew vermögen. Doch in dieser Stimme steckt mehr als ein flamboyanter Paradiesvogel im Identitätskäfig. Es ist Soul, der wie Emo klingt. Man weiß nicht, ob hier der Tod singt oder das Leben. Hands down: ich war so gebannt von dieser Performance, dass ich glatt vergessen habe, welche Songs The Antlers angestimmt haben (Ich vermute, "Kettering" und "Shiva") Bitte unbeding bald ins Ösiland einschweben lassen!

The National

Christian Lehner

The Antlers

Christian Lehner

The Antlers

Christian Lehner

Wenn die Umbauarbeiten länger dauern als die improvisierten Sets, dann muss man sich einfach auf den Kunst-Kontext berufen. Gitarrenverstärker wurden beim High Violet Annex zu Projektionsflächen, Musiker auch. Die Ansammlung der Effektgeräte am Boden geriet zu einer Art (hahaha) Readymade, Installationen der elektrischen Verstärkung und Verzerrrung. So habe ich das Set von Sharon Van Etten, die noch vor The Antlers gespielt hat, versäumt, weil ich The National Bassisten Scott Devendorf zum kurzen Frage-und-Antwort-Spiel auf die Straße gebeten habe.

The National

Christian Lehner

The National

Christian Lehner

Und dann tauche ich in den Windschatten von Scott, um durch das Gewusel an den vorderen Rand der Bühne zu gelangen. Dort haben Trompeter Kyle Resnick und Ben Lanz an der Gitarre Stellung bezogen. Beide zählen zum erweiterten Kreis von The National und haben an diesem Nachmittag auch bei der Vorabaufzeichnung der Letterman Show mitgespielt. Genau so wie ein gewisser Sufjan Stevens als Gastsänger, der dann im High Violet Annex einen seiner Experimentalfilme zeigte, während die Dessner Brüder dazu einen zarten Drone kreierten. Zuvor war das andere Brüderpaar am Werk. Bryan und Scott, sowie die erweiterte The National Mannschaft ließen die Trompete, den Bass, die Gitarren und das Schlagzeug in einer wilden Kakophonie die Wände des Project Space rauf und runterkriechen. Nur Sänger Matt Berninger fehlte. Der war wohl eine Ecke weiter bei Astor Wines, um sich erlesenen Vorrat für den krönenden Abschluss dieser New Yorker The National Woche zu besorgen. Der High Violet Annex schloss am Samstag Abend seine Pforten (tags zuovor spielte die Band dann doch noch geschlossen ein kurzes Set). Other Music Co-Besitzer Josh Madell erzählte mir abschließend, dass bereits ein Major Label bei ihm angerufen hat und wissen wollte, wie man sowas auf die Beine stellt. Ja, wie wohl!

The National

Christian Lehner

The National

Christian Lehner

The National

Christian Lehner

The National live im BAM

Nach dem Coup mit dem Albumstream auf der Website der New York Times und dem High Violet Annex in Manhattan haben The National am Samstag zu einer Show vor großem Publikum geladen, die live auf YouTube übertragen wurde. Die Einnahmen flossen der Red Hot Organisation zu. Für die Aids-Charity kompilierten die Dessner Brüder auch den letzten Dark Was The Night Sampler und organisierten ein mittlerweile schwerst legendäres Konzert in der Radio City Hall in Midtown, die laut neuem Song "Little Faith" ja eigentlich in den Fluten einer New Yorker Regenorgie versinken sollte.

Downtown Brooklyn

Also auf zur Brooklyn Acadamy Of Music nach Downtown Brooklyn. Von mir zu Hause in Clinton Hill ist das ein flinker Fußmarsch durch die Neighborhood und Fort Green. Während Europa im Eurotief friert, wird in dieser verfrühten Sommernacht auf den Straßen getanzt, geposed und gefeiert. Laute Nacht, heilige Nacht! Durch die Menschentrauben an der Fulton Street, die Einsatzwägen der Polizei, die Motorräder der Biker Gangs, die Sambaklänge aus dem Havana Outpost, vorbei an den B-Boys und Fly Girls, die rüber zu Moe’s ziehen und den SUVs mit ihren obligatorischen Booming Systems schlendere ich runter zum Kulturkomplex, den man hier kurz BAM nennt, und der mit seinem hohen Turm selbt von Manhattan und Queens aus gut zu sehen ist.

Der Gig

The National

Christian Lehner

Wie ernst eine Band das Format Album nimmt, kann man an den ersten Auftritten zum Release ermessen. An diesem Samstagabend haben The National nicht nur ein für andere gerade verträgliches Maß an Songs aus dem neuen Oeuvre präsentiert, sondern jedes einzelne Stück auf "High Violet". Im Umschlag mit ihren Fans ist das aber auch kein allzu großes Risiko. Man mag sich. Die neuen Bekanntschaften werden vom Publikum ebenso herzlich begrüßt wie gute alte Freunde. Man kennt sogar schon ihre Namen und weiß mit ihnen mitzusingen.

The National Konzerte sind wie The National Songs und The National Alben. Es dauert ein wenig, bis sich nachhaltige Begeisterung einstellt, aber jene lässt sich dann auch nicht mehr so schnell vertreiben. Aufgestellt mit Miniorchester stolpern Matt Berninger und seine Mitstreiter etwas zerfahren in den Abend. Aber wie sollte es auch anders sein? Selbst in Anzug, Weste und Krawatte wirkt die Truppe wie von einem Tornado gefönt. Matt Berninger hält sich abwechselnd am Mikrophonständer und einem Weißweinglas fest. Diese kleinen Rituale sind fixer Bestandteil seines Bühnenacts – ebenso wie das obligatorische Bad in der Menge, das bei Song drei, "Bloodbuzz Ohio", erstmals genommen wird und das gesamte Auditorium auf die Stühle treibt. Gesessen wird ab diesem Zeitpunkt den ganzen Abend nicht mehr.

The National

Christian Lehner

Berninger ist ja schon eine kleine Rampensau, ein kleiner Jim, der sich mit dem Anschwellen der Songs in emotionale Rauschzustände steigert, die sich am Ende entladen. Das beginnt in der Regel damit, dass er die Augen schließt und mit seinen klobigen Händen im Rhythmus die Oberschenkel bearbeitet wie ein verzweifelter Bauer die vertrocknete Scholle. Es folgen krampfartige Entladungen Urschrei style ("Abel"). Manchmal stolpert er, mehr gezogen als getrieben, das Weinglas schwenkend, wie monologisierend von einer Ecke der Bühne zu anderen. Wie in den Texten selbst ist es ein im Kreis Gehen, das nur unter Aufbietung sämtlicher Kräfte und ein bisschen Wahnsinn durchbrochen werden kann. Dann der Sprung in die Menge und das singende Kraulen durch die Reihen (bei der dritten Zugabe "Mr. November" schafft es Berninger fast bis ganz ans Ende der Konzerthalle). Das alles ist Arbeitsmethode zwischen kalkulierten Posen und Kontrollverslust. Wie so vieles bei The National wirkt es hilflos, unsexy, ja erbärmlich, aber auch zwingend, fordernd und cool. Erst in Zusammenspiel dieser Gegensätze funktioniert das Reenactment der wohl abgelebtesten Posen der Rockgeschichte, ohne der Lächerlichkeit anheim zu fallen. Freilich, gefährlich ist das in erster Linie für den Protagonisten selbst. Berninger will sein Publikum nicht "anzünden" oder Revolten starten. Dort auf der Bühne steht auch kein 20-Jähriger mit aufgeschnittener Brust, sondern ein knapp 40 Lenze zählender Familienvater, der sich Sorgen macht und dem in erster Linie das Herz blutet ("Sorrow", "I’m Afraid Of Everyone", "Little Faith").

The National

Christian Lehner

Der Rest der Band, am Album sehr präsent, ist live hauptsächlich damit beschäfitigt, dem Manischen am Mikro einen Teppich auszurollen. Einzig Bryce Dessner drängt manchmal etwas nach vorne mit seinem Gitarrenspiel, ein Habitus, von dem schon Bruder Aaron beim Interview schmunzelnd erzählte.

20 Songs sollen es am Ende gewesen sein. Meine persönlichen Favoriten waren neben dem immerguten "Abel" und "Fake Empire" das majestätische "England" und dieser feuchte Traum von einer Ballade names "Runaway", die ich von der Akkordfolge, dem Fingerpicking, den Bläser und Streicherarrangements als die legitimste Fortführung, Verschränkung und Abstrahierung von "In The Ghetto" und "Suspicious Minds" ever betrachte. Amen.

The National

Christian Lehner

Zum Finale kommt Sufjan Stevens noch einmal als Gastsänger auf die Bühne (wie zuvor schon bei "Afraid Of Everyone" und "Conversation 16". Berninger, der mittlerweile die zweite Flasche Wein geöffnet hat, will es noch einmal wissen. Drohend schwenkt er den Mikroständer (Sufjan Stevens geht instinktiv in Deckung). Schreiend besteigt er das Schlagzeugpult von Bryan Devendorf. Am Ende zeigt der Frontmann von The National Gnade und erledigt das Mikrophon mit mehreren, eher ungelenken Schwüngen auf den Boden.

So viel durfte dann schon kaputt gehen in dieser Ausnahmenacht einer Ausnahmewoche für The National. Mit dem Release von "High Violet" wird man der Band endültig das Prefix "Inter" voranstellen müssen. Trotzdem werden sie demnächst nicht bei "Wetten, dass" auftreten. Dafür aber in der Arena Wien am 18. August diesen Jahres. Ob Berninger Veltliner mag?