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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

15. 5. 2010 - 15:47

Hammer und Sichel

Rache, Gier und Massenmord dominieren die ersten Tage der 63. Filmfestspiele von Cannes.

Die Anmut und Grazie, die die Berichterstattung aus Cannes für gewöhnlich dominiert, die wirkt noch unwirklicher, wenn man sich durch die Wirklichkeiten des Festivals schieben muss. An diesen zwei Wochen im Mai wird die französische Stadt überschwemmt von Goldgräbern und anderen Glückssuchenden: Anwesende Journalisten hoffen, zumeist vergeblich, auf wertvolle Interviews, Produzenten hoffen auf Geldgeber und die Armen, die reisen an und hoffen auf die Großzügigkeit der Reichen. Mir ist vorgestern fast ein Stück Pizza im Hals stecken geblieben, als mir ein Afrikaner mit zehn funkelnden, übereinander gestapelten Paillettenhüten auf dem Kopf eine schwarzafrikanische Plüschpuppe mit dicken roten Lippen und weit aufgerissenen, kugelrunden Augen auf den Tisch gestellt hat: Auf Knopfdruck lässt das "Spielzeug" zu einem französischen Schlager die Hüften kreisen, der Kopf wackelt. Das Kino könnte solche vulgären Wirklichkeiten gar nicht mehr einfangen und ich würde es als Kitsch zurückweisen. Auf dem Nachhauseweg bin ich dann noch über eine Austernschale gestolpert, die auf dem Gehsteig vor einem der teuersten Fischrestaurants lag.

Kein Wunder also, dass ich mich hier bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Filme einbette: die Geschichten von Missbrauchten und Verwundeten, von Heiligen und Huren, all das, was eigentlich Fantasie sein soll, wirkt plötzlich um so vieles verständlicher, logischer und natürlicher als all die Eindrücke, denen man hier täglich ausgesetzt ist.

Bedevilled

Sogar die Tragödie von Bok-nam: Die junge Frau lebt mit nur acht weiteren Leuten, die im Verlauf der Jahrzehnte nah, zu nah aneinander gerückt sind, auf der abgelegenen südkoreanischen Insel Moodo. Privatsphäre gibt es keine, fast kultisch muten die täglichen Rituale und die in die berauschende Natur eingezogenen Hierarchien an. Vier Großmütter wachen über das Wohl von nur zwei geschlechtsreifen Männern. Die Brüder, einer davon ist mit Bok-nam "liiert", vergewaltigen die junge Frau täglich. Wenn sie nicht spurt, wird sie verprügelt. Wer da jetzt Einspruch erhebt, dem sei gesagt: Ja, Bedevilled das Regiedebüt des ehemaligen Regieassistenten von Kim Ki-duk, Jang Cheol-so, gehört zum vor allem in den Siebziger Jahren populären Genre des Rape-Revenge-Films. Vor allem aber ist der Missbrauch von und die Gewalt an Frauen in kaum einem anderen asiatischen Land so verbreitet und gesellschaftlich akzeptiert wie in Südkorea.

Sense

Semaine de la Critique

Es baut sich also ein unheimlicher Echoraum auf um diese fantastisch anmutende Geschichte. Eines Tages kehrt die mittlerweile im "modernen" Seoul arbeitende Hae-won zurück auf die Insel; um auszuspannen, um den Großstadtstress zu vergessen. Ihre Anwesenheit bringt die Verteilung zwischen Schlägern und Geschlagener ins Wanken. In Bok-nam festigt sich der Wille, mit ihrer Tochter Moodo endgültig hinter sich zu lassen. Aber natürlich kommt es zu einer Eskalation dieser Situation, zu einem lang andauernden und packend inszenierten Rachefeldzug der jungen Frau – mit Sichel und Vorschlaghammer. Es hat eine primitive Gerechtigkeit, wie sich Bok-nam beinahe rituell ihrer Peiniger entledigt. Wie eine Gottheit schreitet sie über die Insel, ihre Kleider von Blut und Gedärmen verklebt, immerzu auf der Suche nach Erlösung. "Bedevilled" ist jedenfalls eines der eindrucksvollsten Regiedebüts des Jahres.

Chatroom

Hideo Nakatas Chatroom hingegen verfängt sich in einigen guten Ideen, die der japanische Regisseur von "Ringu" (1998) leider nie zu einem wirklich stimmigen Ganzen zusammen zu fügen versteht. Basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück von Enda Walsh, zeichnet sein Drehbuch das dystopische Bild einer kommunikationsgeschädigten britischen Jugend, die versucht ihre Psychopathologien im Internet zu therapieren – mit fatalen Konsequenzen. Zentral für das Kammerstück ist der suizidale William (beeindruckend: Aaron Johnson), der vier andere psychisch angeschlagene Jugendliche (darunter eine Profilneurotikerin, ein Depressiver und ein Pädophiler) in seinen Chatraum "Chelsea Teens!" einlädt und sie wahlweise mit seiner Intelligenz, seinem Charisma oder seinem guten Aussehen dahingehend manipuliert, dass sie schlussendlich seine persönlichen Zerstörungsfantasien ausleben. Die virtuellen Räumlichkeiten ähneln in Nakatas Film einem herunter gekommenen Motel. In den dunklen Fluren treiben sich die Verdrängten und Ausgestoßenen der Gesellschaft um, wirklich festnageln kann der Thriller die neuen Sinnlichkeiten der Generation Facebook allerdings nicht.

junger Mann, Computer

Cannes

William in der Wirklichkeit

Wall Street: Money Never Sleeps

Vollkommen im Zeitgeistsaft steht hingegen Oliver Stones Wall Street: Money Never Sleeps, die Fortsetzung seines erfolgreichen Finanzweltthrillers aus 1987. So wie er damals dem schrankenlosen Neoliberalismus der Regan-Ära und seiner Yuppie-Kultur den chamäleonartigen Finanzjongleur und Manipulationskünstler Gordon Gekko vorangestellt hat, so erhält jetzt die globale Finanzschmelze unter der Regentschaft von George W. Bush ihre rückwärts gewandten Investment-Banker. Gleich zu Beginn entledigt sich der aus der Haft entlassene Gekko (eine Sensation: Michael Douglas) seines ziegelsteingroßen Mobiltelefons und nistet sich wieder ein in der "Wall Street". Vermittels der 100 Millionen Dollar, die auf dem Schweizer Sparkonto seiner linksliberalen Tochter Winnie (Carey Mulligan) liegen, will er im Spiel der Spiele wieder mitmischen. Der Schlüssel zum Tresor liegt bei Winnies Freund Jacob (Shia LaBeouf), einem ambitionierten Jungbanker, der Gekkos Charisma schnell verfällt und zu spät merkt, dass er nur eine weitere Schachfigur im letzten großen Zug dieses Ultrakapitalisten ist.

Michael Douglas und Shia LaBeouf in "Wall Street: Money Never Sleeps"

Fox

Stone ist viel zu intelligent, um allein die Banker als Schuldige auszustellen. Vielmehr naturalisiert er deren Gier, indem er etwa auf das Platzen der Amsterdamer Tulpenblase im 17. Jahrhundert hinweist. Das Anhäufen von Privatvermögen durch das riskante Spiel mit dem Geld von anderen ist eben keine Frage des Zeitgeists, auch nicht des Systems, sondern – jedenfalls für den überzeugten Sozialisten Oliver Stone – die menschliche Natur. Der Regisseur tobt sich aber nicht nur inhaltlich aus: Formal beeindruckt sein "Wall Street: Money Never Sleeps" mit Extravaganzen wie Split Screens und Lochblenden, einmal wächst die Kurskurve sogar parallel zur Skyline von Manhattan. Damit stellt Stone weitaus vielschichtigere Fragen als jene nach der Moral. Die menschliche Existenz selbst erscheint bei ihm als Blase, innerhalb der Lüge und Wahrheit, Fiktion und Realität, Spiel und Ernst und nicht zuletzt virtuelles und echtes Geld nicht mehr auseinander zu halten sind. Die Schauspielleistungen sind durchgehend ausgezeichnet. Am meisten hat mich die kleine, große Rolle des 95-jährigen Eli Wallach als Finanzmarktguru Julie bewegt.

Die 63. Filmfestspiele von Cannes befinden sich gerade im ersten Wochenendhöhenflug. In den nächsten Tagen laufen hier unter anderem die neuen Filme von Takeshi Kitano und, erm, Jean-Luc Godard vom Stapel.