Erstellt am: 8. 5. 2010 - 18:06 Uhr
Free Comic Book Day am 8. Mai
Nach zwölf Jahren Betteln und kleinen unsubtilen Erpressungsversuchen habe ich es geschafft. Ich darf als Aushilfe in meinem Lieblingscomicgeschäft arbeiten. Eigentlich sollte ich bezahlen, dass ich hier arbeiten darf. Es ist einer meiner schönsten Orte und ich bin die schlechteste Mitarbeiterin der Welt. Ich verliere den einzigen Tresorschlüssel und wische aus Versehen mit dem Inhalt der Hausbar den Boden auf.
nataliebrunner
Viele der Menschen, die im Comicgeschäft aus und ein gehen, könnten genauso Figuren sein, die einer der hier verkauften Publikationen entsprungen sind. Der Typ, der im Darth Vader Jogging Anzug inklusive Cape herumläuft, ist nur das augenscheinlichste Beispiel. Spannend sind auch die Mint Fanatiker die eine noch nicht ausgepackte Kiste mit lauter identischen Comics durchwühlen, um das mit dem schönsten und am besten gedruckten Cover zu finden. Von den Leuten, die hier arbeiten, will ich gar nicht erst sprechen. Ein verwegenes Grüppchen Superhelden.
nataliebrunner
Mein Lieblingskunde ist ein fünfjähriges Kind, das scheinbar nur ein Wort beherrscht und es darauf angelegt hat, mich mit dem ohrenbetäubenden Schrei POKEMON in den Wahnsinn zu treiben. Es stellt sich vor dem Verkaufstresen auf, bewirft mich mit Münzen, zeigt in eine Richtung und schreit Pokemon. Die offensichtlich bereits schwer demoralisierten Erziehungsberechtigten bleiben im Eingangsbereich stehen, den Blick gesenkt. Nach fünfminütigen Schreiattacken habe ich herausgefunden, dass das Kind auf Tradingcards zeigt. Als ich ihm erkläre, dass es keine Pokemon Tradingcards mehr gibt, wirft sich der Übeltäter auf den Boden und schreit weiter nach Pokemon. Dannach kommt Phase zwei: Wahllos werden mir über den Tresen Produkte zugeworfen und ich werde angeschriehen: "Wieviel?". Egal was ich sage, es folgt die Gegenfrage: "Wieso so teuer?". Nach einer halben Stunde händige ich meinem Lieblingskunden seine Münzen wieder aus und er läuft zu seinen verschreckten Erziehungsberchtigten zurück.
nataliebrunner
Immer interessant wird es auch, wenn Gangs von cartman-artigen Volksschülern über uns herfallen. Die dreistesten haben wir in der Überwachungskamera beobachtet, wie sie in die Nightmare on Elmstreet Halloween Becher urinierten.
nataliebrunner
Gleichfalls ein großartiger Kunde ist Herr M. Er ist ein großer Freund von Listen und Statistiken und führt ständig Umfragen durch. Wer ist der fieseste Schurke? Wer ist das sexieste Girl? Welche Spongebob-Folge ist die Beste? Das Ergebnis trägt er uns als Referat vor und händigt es uns in ausgedruckter Form aus. Es solle doch bitte hinter die Kassa gehängt werden. Am nächsten Tag kommt Herr M. stets zur Kontrolle, ob die Listen noch hängen.
nataliebrunner
Dieses Monat war der Kundenkontakt mit einem Herrn Mitte vierzig mein persönliches Highlight. Er suchte ein Indie-Comic aus den 90er Jahren namens Dirty Plotte. Dessen Zeichnerin Julie Doucet stammt aus der Hate-Comic-Ecke, es ist also ein zynisches, bitteres, feministisches Machwerk. Der Herr war fassungslos, dass ich es nicht kannte und forderte mich auf, im Internet, im Telefonbuch und auf den geheimen Listen, die ich da sicher irgendwo habe, nachzusehen, ob man dieses Comic noch irgendwo bestellen könnte. Überfordert kassierte ich bei anderen Kunden, bis der Herr sich direkt vor mir aufbaute und deutlich lauter als zuvor und hörbar entrüstetet die Worte "dreckige Möse" in den Raum schleuderte. Nach einem verwunderten "Wie bitte?" von meiner Seite erklärte er mir, dass dies der deutsche Titel des Comics sei. Er erzählte mir noch von der Geburtstagsfeier seines Vaters, weshalb er nicht zur Comicbörse gehen wird. Um Dirty Plotte, meinte er, würde er nächste Woche wieder nachfragen und zog mit einem Hate Sammelband im Arm ab.
nataliebrunner
Und weil wir schon beim Thema sind: Ich habe gelernt, dass erotische Anime DVDs nie für den Kunden selbst sind, sondern immer ein Geschenk für einen Freund ,der Geburtstag hat.
Heute am Free Comic Book Day gab es viele freudige Ausbrüche, als sich die Kunden ihr gratis Heftchen aussuchen durften. Glaubt mir, es ist etwas sehr schönes, Erwachsenen mit Star Wars, Simpsons, Hellboy oder Iron Man Comics zu beschenken. Wenn man ihre Freude sieht, sind die Kunden nicht mehr anonyme Passanten, sondern liebenswerte Freaks.
Ich liebe diesen Ort und den Geist, der ihn trägt. Hier zu arbeiten ist meine Theraphie gegen die Herzlosigkeit der Welt.