Erstellt am: 10. 5. 2010 - 10:50 Uhr
Klinik unter Palmen
Immerhin ein kleines Raunen ging vor ein paar Tagen durch die Reihen der Cannes-Reisenden, als einem aus diversen Tageszeitungen Fotos von gewaltigen Wellen entgegen blickten. Die Stirnsorgenfalten und angeschlossenen Fragestellungen galten allerdings kaum den von dem Naturschauspiel betroffenen Anrainern und Lokalbetreibern, sondern eher der plötzlich bedrohten Geschmeidigkeit der eigenen Anwesenheit an der Azurküste. Wird man die kilometerlangen Trampelpfade zwischen den Luxushotels, in denen die meisten Interviews stattfinden und dem zentralen Festivalbunker in der üblichen Gehgeschwindigkeit beschreiten können oder muss man plötzlich aufgrund von Grünalgenhügeln und Muschelanhäufungen Pufferzeiten in den ohnehin schon straff organisierten Kalender einplanen? Sind gar gänzlich unglamouröse Gummistiefel in den Koffer zu packen?
iPads statt R-Pattz
Brigitte Lacombe
Wer sich aufgrund der augenscheinlichen Vulgarität dieser Überlegungen fragt, ob Filmfestivalreisende ein moralisch verrohtes Pack sind, dem sei gesagt: fast immer, ja. In Cannes, da zeigt sich schon ab und an mal große Filmkunst, vor allem aber stolziert hier der Mammon durch die engen Gassen. Repräsentation rules OK an der Croisette, wie schon an der Omnipräsenz der iPads in den Händen und Taschen von amerikanischen Kollegen zu beweisen sein wird. In dieser Klinik unter Palmen ist jeder Angereiste Apparatarbeiter, eingespannt ins Karussell der Eitelkeiten und im Dienst der eigenen Sache unterwegs. Jetzt ist die tragische Sache mit den Wellen eine Art von Kontrastflüssigkeit, mithilfe der man die groteske Situation zwischen 12. und 23. Mai im französischen Süden noch besser illustrieren kann: Cannes wirkt ohnehin immer wie ein Transvestit, ein mittelgroßer, gar nicht mal fescher Ort, in dem sich Modeschmuckdiskonter an Nobelschneidern reiben, der sich für zwei Wochen mit so viel Glamour, Lidschatten und grellpinker Schminke aufrüscht, dass man meint, das billige Parfüm schon am Flughafen von Nizza riechen zu können.
Ist man erst einmal durch den ganzen Morast hindurch getaucht, somit beim Kern der Sache angelegt, und das sind natürlich die Filme, ist es an der Zeit, den Blick schweifen zu lassen über die diesjährige Selektion. Der immerhin wichtigste Filmwettbewerb der Welt, die Compétition Officielle, präsentiert sich heuer verschlankt, bestückt mit lediglich 18 Filmen, wo sich normalerweise über 20 die Klinke in die Hand geben. Ein Resultat schlecht geführter Verhandlungen vielleicht, wahrscheinlicher aber einfach Pech, dass einige größere US-Produktionen wie Terrence Malicks auch vom Schreiber dieser Zeilen sehnlichst herbei gewünschter Film „The Tree of Life“ oder Gus Van Sants „Restless“ einfach nicht rechtzeitig fertig geworden sind. Aber keine Angst, die Schauwerte sind auch (fast) ohne Hollywood-Beteiligung beträchtlich.
La sélection inofficielle (according to Moi)
Hier eine Auswahl aus dem diesjährigen Programm, nämlich jene 10 Filme auf die ich mich am meisten freue, und über die ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zehn, vielleicht sogar zehntausend Zeilen schreiben werde.
Aurora
Regisseur: Cristi Puiu
Sektion: Un Certain Regard
Cannes
Hier ist der Grund für meine Vorfreude ganz einfach zu benennen: Puius Moartea domnului Lazarescu, die dreistündige Verité-Odyssee eines verarmten, alten Mannes, der in seiner Bukarester Sozialwohnung Blut spuckt, von seinen schrulligen Nachbarn versorgt, schließlich von der Ambulanz in ein Krankenhaus, dort von einer Untersuchung zur nächsten geschoben wird, ist nachwievor einer der zentralen Filme über das Leben und den Tod in einer Gesellschaft, die vorwiegend mit Verrichtung und Verwaltung beschäftigt ist. Unsentimental erzählt, formal unaufdringlich und dennoch eine der bewegendsten Kinoerfahrungen des vergangenen Jahrzehnts. Lange habe ich also gewartet auf den Nachfolger, die schwierige Finanzierung hat „Aurora“ lange auf der Kippe stehen lassen, jetzt ist er da.
Chatroom
Regisseur: Hideo Nakata
Sektion: Un Certain Regard
Nakatas Horrorthriller Ringu hat nicht nur im Westen den J-Horror-Boom befördert, sondern auch bei mir gewaltigen Eindruck hinterlassen. Auch wenn ich mit seinen Folgeprojekten Dark Water (2001) und Kaidan (2007), der Neufassung eines der wichtigsten, besten, großartigsten Horrorfilme überhaupt, nämlich Masaki Kobayashis „Kaidan“ (1964), nicht so viel anfangen konnte, interessiert mich „Chatroom“: die Geschichte virtueller Freundschaft, wobei ein jugendlicher Avatar plötzlich die Gruppendynamik ins Straucheln bringt, alle mitreißt in die Dunkelheit (Sorry: die Synopsen der Filme sind ähnlich kryptisch wie meine hilflosen Paraphrasierungsversuche derselbigen). Die Hauptrolle spielt übrigens Aaron Johnson, der hübsche junge Mann, den wir alle gerade als „Kick-Ass“ in den Kinos bewundern durften.
Cannes
Outrage
Regisseur: Takeshi Kitano
Sektion: Wettbewerb
Der einzige Wettbewerbsfilm in diesem Jahr, der mich so richtig antörnt, ist zweifelsfrei Takeshi Kitanos Rückbesinnung auf den Gangsterfilm: die letzten drei Arbeiten dieses japanischen Zentralkünstlers kann man ja insgesamt als dadaistische Selbsterfahrungen in knatterbunten Bildern bezeichnen, ich mochte sie im Gegensatz zu vielen Kollegen sehr. Mit „Outrage“ taucht er jetzt wieder ein in jenes zwielichtige, lakonische Yakza-Universum aus seinen Meisterstücken Sonatine und Brother. Ich sag nur: Banzai!
Cannes
Kaboom
Regisseur: Gregg Araki
Sektion: Out of Competition
Gregg Araki versteht es immer wieder, mich zu überraschen. Mit Mysterious Skin lieferte er einen der besten Filme des Jahres 2004 ab, eine poetische Erkundung des Innenlebens zweier Burschen, worauf er 2007 die großartige, weil so hirnrissige Kifferkomödie Smiley Face folgen ließ. „Kaboom“ ist laut seinen Angaben ein Science-Fiction-Film über das sexuelle Erwachen von Jugendlichen. Aha. Nach Herumstöberei im Internet bin ich noch auf folgende Beschreibung gestossen: the movie is "a wild and sex-drenched horror-comedy thriller" about an ambisexual college freshman who trips on "some hallucinogenic cookies" and is "convinced he's witnessed the gruesome murder of an enigmatic Red Haired Girl who has been haunting his dreams." Schlüsselwörter sind: ambisexual, hallucinogenic cookies und gruesome murder. Kein Zweifel, muss ich sehen.
Cannes
Somos lo que hay (What we are)
Regisseur: Jorge Michael Grau
Sektion: Quinzaine des Réalisateurs
Es ist auch in Cannes so, dass die spannendsten Filme abseits der Trampelpfade zu finden sind. Die ehrwürdige Quinzaine des Réalisateurs präsentiert heuer erstmals ihr Programm unter der neuen Leitung von Frédéric Boyer. Über den mexikanischen Beitrag “Somos lo que hay” habe ich bereits vor geraumer Zeit gelesen, und zwar nur Gutes. Die Geschichte handelt von einer Familie, die nach dem Tod des Vaters in arge Turbulenzen gerät. Das Besondere daran: es handelt sich um Kannibalen. Ich bin dabei!
Somos lo que hay
La casa muda (The Silent House)
Regisseur: Gustavo Hernández
Sektion: Quinzaine des Réalisateurs
Fakt 1: der Film basiert auf einer wahren Begebenheit. Fakt 2: die Geschichte handelt von einer Frau in einem Spukhaus. Fakt 3: er kommt aus Uruguay. Fakt 4: er wurde in einer einzigen, 79-minütigen Einstellung gedreht. Fakt 5: ich sehe ihn mir an.
La Casa Muda
Sound of Noise
Regisseure: Ola Simonsson, Johannes Stjärne Nilsson
Sektion: Semaine de la Critique
Plot: ein unmusikalischer, Musik hassender Polizist namens Amadeus Warnebring (!), der aus einer Familie berühmter Musiker stammt, bekommt es mit eine musikalischen Terroristengruppierung zu tun, die die Stadt als Instrument und Klangkörper gleichzeitig zur Herstellung von Chaos und Anarchie verwenden wollen. Hm. Basiert auf einem Kurzfilm der beiden Spielfilmdebütanten.
Rubber
Regisseur: Quentin Dupieux
Sektion: Semaine de la Critique
Herr Dupieux ist popkulturaffinen Lesern und Leserinnen vermutlich noch bekannt als Mr. Oizo. Hauptdarsteller ist ein Autoreifen (!), der mit seinen telepathischen Fähigkeiten (!) Menschenköpfe zum Platzen bringen kann (!) und sich auf seiner Reise durch die kalifornische Wüste in eine Frau verliebt.
Bedevilled
Regisseur: Cheol-soo Jang
Sektion: Semaine de la Critique
Laut Angaben eines guten Freundes von mir, der jedes Jahr mehrere Monate in Südkorea verbringt und für einige europäische Filmfestivals (darunter Venedig) als Kurator tätig ist, ist Jangs Horrorfilm ein Meisterstück. Die Geschichte einer jungen Bankangestellten aus Seoul, die sich auf eine Reise macht zurück in ihre Kindheit und Fürchterliches entdeckt. Die Bilder sind großartig!
Semaine de la Critique
La Meute (The Pack)
Regisseur: Franck Richard
Sektion: Cinéma de la Plage
Das Cinéma de la Plage befindet sich, wie der Name schon sagt, am Strand und ist, im Gegensatz zum restlichen Programm, der breiten Öffentlichkeit kostenfrei zugänglich. Soll ich es also als einen Wink mit dem Zaunpfahl werten, dass Franck Richards Horrorthriller über eine junge Frau, die in einem kleinen Restaurant auf Monster trifft, dort seine Weltpremiere feiert? Angst habe ich noch, dass die Vorführung nicht englisch untertitelt sein könnte. Vielleicht wird mich das aber auch gar nicht stören.
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Schwarzfilm
- Alle Stories unter fm4.ORF.at/cannes
So weit meine Vorschau auf die 63. Filmfestspiele von Cannes, die am kommenden Mittwoch, den 12. Mai, mit der Weltpremiere von Ridley Scotts „Robin Hood“ eröffnet werden. Ich melde mich regelmäßig mit Enttäuschungen, Entdeckungen und anderen Eindrücken von der Croisette.