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Barbara Köppel

Durch den Dschungel auf die Bühne des Lebens.

8. 5. 2010 - 14:38

"Die meisten Nazis waren sehr normale Menschen"

Katarina Bader, Autorin von "Jureks Erben", im Interview über den Umgang der Enkelgeneration mit dem Nationalsozialismus.

Katarina, du hast ein Buch über Jurek Hronowski geschrieben, einen Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz. Dafür hast du nicht nur mit ihm und anderen Zeitzeugen gesprochen, sondern auch mit vielen jüngeren Menschen. Wie geht unsere Generation, wie gehen wir Enkelkinder mit dem Nationalsozialismus um?

Autorin Katarina Bader

Katarina Bader

Katarina Bader, Jahrgang 1979, studierte Politikwissenschaft, osteuropäische Geschichte und Journalismus in Deutschland und Polen. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ludwig-Maximilians-Universität und als freie Journalistin in München.

Die meisten von uns können das schon nicht mehr hören. Wenn ich auf Parties gefragt wurde, was ich so mache und gesagt habe, ich schreibe die Biographie eines Auschwitz-Überlebenden, sind immer alle gleich verschwunden. Einerseits denken viele, dass sie sich aus politischer Korrektheit damit auseinandersetzen müssten - das haben wir ja in der Schule oft gehört - andererseits haben sie das Gefühl, das hat nichts mehr mit uns zu tun. Trotzdem glaube ich nicht, dass uns das alle nicht mehr interessiert. Der Krieg und der Nationalsozialismus haben in unseren Familien Spuren hinterlassen. Viele setzen sich eher psychologisch damit auseinander. Wie hat es unsere Großeltern geprägt, was sie im Krieg erlebt haben? Wie war es für unsere Eltern mit Menschen aufzuwachsen, die traumatisiert waren oder sich schuldig gemacht haben?

Du hast für dein Buch auch deine eigene Familiengeschichte erforscht. Was hast du rausgefunden?

Meine Familie ist eine typische deutsche Nachkriegsfamilie. Meine Großmutter väterlicherseits war eine Nazi-Mitläuferin. Ich habe sie als gutmütige, kuchenbackende Bauernhof-Oma erlebt, aber mit neunzehn ist sie in den Reichsarbeitsdienst eingetreten. Das war anfangs noch ein freiwilliger Dienst für junge Frauen, die auf Bauernhöfen geholfen haben, mit dem Ziel, den Endsieg zu unterstützen. Sie hat die ganze Ideologie mitgemacht und ist zur Lagerleiterin aufgestiegen. Das waren Lager, bei denen deutsche Mädchen ums Feuer gesessen sind und sich gegenseitig "Mein Kampf" vorgelesen haben. Ich habe gesehen, was sie in ihrem "Mein Kampf"-Exemplar unterstrichen hat und wo sie Rufzeichen gemacht hat. In diesen Zitaten geht es um die Vernichtung von Juden, um Lebensraum im Osten und darum, dass die besonders Guten aus der Volksgemeinschaft ausgesiebt werden müssen. Sie konnte nicht sagen, sie hat nichts gewusst. Sie wollte auch mit meinem Opa einen Bauernhof in der Ukraine übernehmen.
Nach dem Krieg wurde in der Familie meines Vaters über all das nicht mehr geredet. Das wurde totgeschwiegen. Bei meinem Vater hat das dazu geführt, dass er als junger Mann ein glühender Kommunist wurde, sich von seinen Eltern scharf abgegrenzt hat und z. B. Russisch gelernt hat. Inzwischen ist er ein typischer Alt-68er, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, die Geschichte aufzuarbeiten. Das ist toll, aber ich finde, wir müssen das nicht. Wir haben keine direkte Schuld zu tragen. Trotzdem ist es wichtig, sich damit zu beschäftigen, weil wir eine Generation sind, die viel reist und als Deutsche oder als Österreicher wird man immer wieder mit dieser Zeit in Verbindung gebracht.

Wie hast du reagiert, als du von der Vergangenheit deiner Großeltern erfahren hast?

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Für mich war das ein Schock. Ich habe viele osteuropäische Länder bereist und mag sie sehr. Aber dort stößt man in fast jeder Altstadt auf eine Mauer, an der 200 Menschen von den Nazis erschossen wurden. Da erschrecke ich jedes Mal. Denn auch wenn meine Oma an diesen Verbrechen nicht direkt beteiligt war - für Menschen wie sie wurde der Vernichtungsfeldzug im Osten geführt! Die Idee war, dass diese Bauernhöfe leer geräumt und die Menschen vertrieben, umgebracht und versklavt werden, damit junge deutsche Bauern wie meine Großeltern einen schönen Bauernhof auf ukrainischer Schwarzerde kriegen.
Ich habe mich gefragt, warum meine Oma nicht darüber nachgedacht hat, dass auf diesen fruchtbaren Böden natürlich Menschen leben und was mit ihnen passiert, wenn sie diese Siedlungspolitik unterstützt. Das ist, was am schwersten zu akzeptieren ist, dass die meisten Nazis sehr normale Menschen waren.

Du hast vom Schweigen in deiner Familie geredet. Ich denke, das kommt häufig vor, weil trotz der historischen Distanz Eltern und Enkelkinder für den Nationalsozialismus immer noch keine passenden Worte gefunden haben. Welcher ist deiner Ansicht nach der angemessene Ton z. B. über Konzentrationslager zu sprechen?

Ich finde, wir sollten nicht dauernd über Sprachregelungen diskutieren, was in der öffentlichen Debatte ständig passiert. Wir sollten über Inhalte reden und uns in die Menschen hineinversetzen. Zum Beispiel finde ich es nicht gut, einfach so etwas wiederzugeben wie: "Der Nationalsozialismus war das schlimmste Verbrechen in der Menschheitsgeschichte". Ich stimme dem voll zu, aber ich denke, dass es den Opfern nicht gerecht wird, wenn wir unsere Gedanken in solche Phrasen einsperren und uns dadurch nicht wirklich damit beschäftigen.

Jurek Hronowski als Häftling im KZ Auschwitz

privat

Jurek Hronowski kam mit dem ersten Transport nach Auschwitz. Er hatte die Häftlingsnummer 227.

Welchen Ton und welche Worte hat Jurek gefunden, der tausenden SchülerInnen und BesucherInnen in der Gedenkstätte Auschwitz seine Geschichten erzählt hat?

Jurek war es wichtig, dass die Schüler bei seinen Geschichten auch lachen können. Er war ein begnadeter Erzähler und hat auch Momente von Situationskomik eingebaut. Er war viereinhalb Jahre im KZ, aber es ist nicht so, dass er in dieser Zeit nie gelacht hätte. Menschen brauchen das. Jurek hat damit nichts verharmlost. Im Gegenteil. Wenn er von den Eigenheiten seiner Freunde erzählt hat, waren die dadurch nicht mehr ein paar Unbekannte unter Millionen Opfern, sondern Mietek und Edek. Man konnte über Dinge lachen, die sie getan oder gesagt haben. Und wirklich heulen, wenn Jurek erzählt hat, wie sie umgebracht wurden. Er hat einen Bezug zu ihnen hergestellt, weil er das Gefühl hatte, solange er selbst lebt, kann er auch seine Freunde lebendig halten.

Im Buch erzählst du nicht nur Jureks Geschichten, du beschreibst auch genau, wie er sie sich zurechtgelegt hat und warum er manches weggelassen hat. Kannst du Jureks System erklären?

Jurek Hronowski, ehemaliger Auschwitz-Häftling, als Reiseführer für eine Gruppe aus der BRD 1965

privat

Jurek 1965 mit der ersten Reisegruppe aus der BRD in Auschwitz.

Jurek hatte ein Repertoire von dreißig Geschichten über Auschwitz. Die hat er immer gleich erzählt, sogar mit den gleichen Gesten und Betonungen. Diese Geschichten hatten auch immer denselben Spannungsbogen. Sie fingen damit an, dass es Jurek sehr schlecht ging und dann wurde er gerettet oder hat sich durch seine eigene Kraft gerettet. Zum Beispiel als er bei einem medizinischen Versuch mit Fleckfieber infiziert wurde und ein Kamerad ihm Medikamente zugeschoben hat, oder als er völlig ausgehungert war und bei der Arbeit im Kälberstall heimlich Milch trinken konnte. Jurek hat seine Geschichten über die Jahre rund geschliffen, wie wir das alle machen. Das heißt nicht, dass sie nicht völlig den Tatsachen entsprechen. Alle seine Geschichten sind mit der Chronik des Lagers und anderen Zeitzeugenberichten abgeglichen und teilweise mit Dokumenten belegt. Aber natürlich muss man beim Erzählen Dinge weglassen. Jurek hat seine Erinnerungen daher nicht auf die schlimmsten und traurigsten reduziert, sondern auf solche, die Hoffnung enthielten und gut ausgingen.

Warum nur gute Geschichten?

Jurek hatte dafür zwei Gründe. Erstens, wenn sie nicht gut ausgegangen wären, hätte er sie nicht erzählen können. Und jeder, der Auschwitz überlebt hat, sagte Jurek, erzählt Geschichten von Wundern. Was nicht heißt, dass Auschwitz ein Ort der Wunder war. Nur, die ohne Wunder sind alle tot. Zweitens wollte Jurek seinen Zuhörern nicht den Glauben nehmen, weder an Gott noch an die Menschen. Er selbst hatte seinen Glauben im KZ verloren, obwohl er in seiner Jugend sogar Priester werden wollte. Er war deswegen überzeugt, dass er so erzählen muss, dass seine Geschichten noch erträglich sind und dass er nicht die ganze Wahrheit über Auschwitz erzählen kann.

Buchcover Jureks Erben

Kiepenheuer & Witsch

Jureks Erben ist 2010 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

An einer Stelle im Buch fragt Jurek, welchen Sinn es überhaupt hat, von Auschwitz zu erzählen. In den Sechzigern beantwortete er das noch damit, dass sie einen Menschen nicht besser machen oder moralisch schulen könnten. Warum hast du diese Geschichten also noch einmal festgehalten?

Ich habe ja kein Buch über Auschwitz geschrieben, sondern ein Buch über das Weiterleben und vom Erzählen nach Auschwitz. Und auch wenn es pathetisch klingt, ich wollte Jurek ein Denkmal setzen. Keines aus Stein - das sind immer Heldenbilder - sondern eines aus Papier, in dem all die Widersprüche seiner Persönlichkeit Platz haben. Ich habe in meinen Recherchen auch viel Trauriges über Jurek erfahren. Zum Beispiel, dass er mit seinem eigenen Sohn nie über seine Vergangenheit reden konnte, während er tausenden Deutschen die Hand zur Versöhnung gereicht hat.
Aber was bleibt ist ein riesiger Respekt, dass er sich seinen Erinnerungen gestellt hat und immer und immer wieder das fast Unmögliche getan hat, nämlich von Auschwitz zu erzählen.