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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

28. 4. 2010 - 23:00

Learning by killing

Mit dem Meisterwerk "Un prophète" erweist sich Jacques Audiard endgültig als einer der spannendsten Filmemacher unserer Zeit.

Hier ist er, der bislang atemberaubendste Streifen des Jahres. Dabei haben ihn einige von euch, darunter auch der Schreiber dieser Zeilen, wohl schon im vergangenen Herbst auf der Viennale gesehen.

Jetzt erlebt "Un prophète", das ganz außerordentliche Gefängnisdrama des französischen Regisseurs Jacques Audiard, endlich seinen überfälligen Kinostart.

Der Film erzählt die Geschichte eines jungen Arabers, der wegen eines kleineren Vergehens zu sechs Jahren Haft verurteilt wird. Ein extrem introvertierter Bursche ist dieser Malik, ein gutaussehender Analphabet, der in der Häfenhierarchie schnell zum Freiwild für diverse brutale Cliquen wird.

Wenn sich diese kurze Inhaltsangabe nach einem rauen Sozialschocker anhört, dann stimmt diese Vermutung nur zum Teil. "Un prophète" ist viel mehr. Wie alle großen Filme funktioniert er auf mehreren Ebenen, fasziniert immer wieder als knallharter Thriller an der Oberfläche, studiert darunter ernsthaft ethnische Spannungen, analysiert beklemmende Gruppendynamiken.

Was Jacques Audiards Arbeit aber wirklich zum Ausnahmewerk macht, ist eine zusätzliche metaphysische Ebene, sind kurze geisterhafte, magische Momente, die an P.T. Anderson oder auch Lars von Trier erinnern.

"Un prophète"

Sony

Schaut man sich die Filmografie von Monsieur Audiard an, dann ziehen sich einige Schlüsselthemen durch. Immer wieder geht es um junge Männer, die auf unterschiedliche Weise straucheln, vom Weg abkommen, über Abgründen schweben. Ältere Mentoren spielen dabei als eher fragwürdige Einflüsterer eine zentrale Rolle.

Bereits 2005 bringt der Regisseur seine Obsessionen in "De battre mon coeur s'est arrêté" (Der wilde Schlag meines Herzens) überwältigend auf den Punkt, einem filmischen Adrenalinstoß, den wohl nur jemand wirklich lieben kann, der selbst getrieben, gehetzt und oftmals out of order durch das Leben rast.

Die Story eines hochgradig nervösen Endzwanzigers (Romain Duris), der sein Geld mit dubiosen Immobiliengeschäften verdient und sich emotional von seinem verwahrlosten Vater erpressen lässt, kokettiert mit allen Antihelden-Klischees.

Letztlich kristallisiert sich, zu pumpendem Electro und glühenden Balladen von The Kills, aber ein Reifungsprozess heraus. Es geht um den Sieg des Weiblichen über den Machismo, um die Kraft der Liebe und die Macht der Musik.

"Un prophète"

Sony

In der erstickenden Gefängniswelt von "Un prophète" kommen Frauen nicht vor, wirkt das Konzept Liebe wie eine Verhöhnung, von Popmusik als hedonistischem Fluchtmittel ganz zu schweigen.

Um eine Transformation geht es dennoch. Malik, von dessen charismatischem Darsteller Tahar Rahim man in Zukunft noch sehr viel hören wird, wird zunächst gebrochen von dem Knastterror, muss sich unterwerfen, wird mit einer Rasierklinge im Mund zum Mord gezwungen.

Aber er zieht, zunächst noch ganz unauffällig und ohne die stereotypen Charakterveränderungen in amerikanischen Mainstreamproduktionen, gewisse Schlüsse aus dem Grauen. Er beobachtet, er überlegt, er lernt.

Weil Gefängnisfilme im besten Fall voller Metaphern für unseren Alltag in der angeblichen Freiheit stecken: Malik, der Inhaftierte, wird zum Sinnbild für die einzige Möglichkeit, im Gegenwartssystem halbwegs unbeschädigt zu überleben. Als Spieler, als schweigender Geheimnisträger, als letztlich cleverer Fädenzieher in eigener Sache.

"Un prophète"

Sony

In "Un prophète" zeigt sich diese Politik des Einzelgängers auch in ethnischer Hinsicht: Malik fügt sich in eine Gruppe von korsischen Mafiosi ein und entfernt sich damit von seiner arabischen Community, zu der es ihn innerlich zurückzieht.

Er bleibt für beide Männerbünde ein Fremder, ein Außerirdischer, schlägt selbst - und das ist ein zentraler Punkt von Audiards Filmen - aber am Ende ein emotionales und auch tatsächliches Kapital aus seinem Außenseiterdasein.

Wer nun an eine kriminelle Aufsteigersaga denkt, wie man sie aus dem Kino zur Genüge kennt, wahlweise mit oder ohne Al Pacino, liegt glücklicherweise falsch. Jacques Audiard nennt seinen Film stolz "Anti-Scarface", weil das außer ein paar armen Bling-Bling-Gangstern und Bushido-Clowns ja keiner mehr braucht.

Nein, Audiards Figuren, der arabische Häftling Malik bisher am eindringlichsten, sind nicht bloß egozentrisch übersteigerte Spiegelbilder der Raubtier-Ökonomie der Gegenwart. Sie versuchen sich, inmitten von Blut, Gewalt und Testosteron-Hölle, eine bestimme Sensibilität, eine Menschlichkeit, sogar eine Zärtlichkeit zu wahren.

Weil Jacques Audiard so sehr an diese letzte, aber ungemein hell gleißende Utopie glaubt, verlässt man "Un prophète" nicht bloß geschockt. Sondern auch mit einem hoffnungsvollen Lächeln und einer kleinen Freudenträne im Auge.

"Un prophète"

Sony