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Eva Umbauer

Popculture-Fan und FM4 Heartbeat-moderierende Musikjournalistin.

2. 5. 2010 - 10:17

Lyrikerin wird Prosa-Poetin

"Flamingos": Elf Stories von Ulrike Almut Sandig.

Der Flamingo ist jenes Tier, an dem wir alle im Zoo stets einfach vorbeigegangen sind, ihn ignoriert haben, am Weg zu den richtigen Tieren - Löwe, Bär und Elefant, während er einfach nur dastand auf diesen zerbrechlichen Beinen. Ist doch so, oder nicht? Sehr eindringlich, fast pedantisch, handelt Ulrike Almut Sandig die Flamingo-Frage ab, streift kurz Eule und Schwalbe, wie letztere doch wie kein anderes Tier ein Gewitter ankündigt, mittels hektischem Tiefflug straight über unseren Köpfen. Wer nicht völlig verstädtert und nie Landluft genossen hat, kennt das Schauspiel wohl. Der ornitologische Ausflug bleibt aber ein solcher. "Flamingos" ist die Titelgeschichte vom Prosa-Debüt von Ulrike Almut Sandig und eine der elf Stories dieser jungen Lyrikerin, die nun zur Prosa-Poetin geworden ist. LyrikerInnen, heißt es ja immer so ein wenig, hinter vorgehaltener Hand, können nicht wirklich Prosa schreiben. Bullshit, sagte sich die dreißig Jahre alte Deutsche, die im Erzgebirge aufgewachsen ist und jetzt in Leipzig lebt, und lässt die moderne Märchen-Erzählerin einfach hinein in ihre Prosa-Zeilen.

Autorin Ulrike Almuit Sandig

Nils Kinder

Ulrike Almut Sandig

"Zwischen Calais und Dover habe ich vom Meer geträumt, wie es eiskalt und sehr tief und sehr schwer auf dem Tunnel liegt, wie schwer das sein muss, Hunderte von Tonnen, eintausend Hotelanlagen, dreitausend Blauwale."

"Dreitausend Blauwale" ist die letzte Geschichte von "Flamingos", und vielleicht die schönste. Aber das ist nicht ganz gerecht, denn "Siebenleben" ist auch wirklich schön: Thomas, der Bub, das Pferd, der Stall, die Katzen - von denen man sagt, dass sie sieben Leben hätten. Und da ist noch Kai Arno, ja, Kai Arno, der eigentlich ein Zwilling sein sollte, aber keiner ist. "Hush Little Baby" ist seine Geschichte, eine, trotz surrealen Dingen und Geschehnissen, letztlich traurige Geschichte.

"Kai Arno legte die erste CD seines Lebens in seinen Discman, drückte auf play, schloss sein blaues und sein braunes Auge und begann eine zweite Stimme zu Charlie Parkers "I can´t get started" vor sich hin zu summen."

"Vatertod", "Kuba" oder "Mond" heißen andere Geschichten. Von Irene und Johnny hören wir in "Mond", und von dem Mädchen, das erzählt: von Irenes Flip Flops, dass Irene gern jugendlich wäre, von den Eiskugeln, die nie in den Mund wollen, sondern stets aufs T-Shirt und auf den Boden. Zack, einfach draufsteigen, und dann drüber mit den pickigen Schuhen über Johnnys Kleiderberg, während er im Teich eine Runde schwimmt. Sagt ja auch nie viel, der Typ, zuhause nicht, und draußen auch nicht.

Buchcover "Flamingos"

Schöffling

"Flamingos" ist bei Schöffling erschienen. Weiters von Ulrike-Almut Sandig: die Gedichte "Zunder" und das Hörbuch "der tag an dem alma kamillen kaufte".

"Blutjunge Süße!, schreit Johnny und treibt Irene ins tiefe Wasser. Ich lasse den Zweig los und laufe auf die Bucht hinaus."

Vergiss es, kleine Malve

Da sind Iris und Anja, ein Cello, ein Fahrrad und der Regen, der dem blinden Mädchen auf dem Drahtesel den Weg weist. Da ist der Raps, der verblüht, und der Sommer, der auch wieder am Vorbeigehen ist. Und da ist Dorothea, aus deren Muttermal auf der Stirn ein mandelförmiges Auge wird. Reality meets fiction, oder umgekehrt. Ein russische Mädchen ohne Mutter, innerlich zerrissen zwischen Schwarzmeer-Küste und Germany: "Vergiss es, kleine Malve, die ist viel zu weit weg", sagt ihre Schwester Irina auf Russisch. Und da ist Tascha, zotige Russen-Witze werden angedeutet - Fotze mit Ohren, und da ist Keren, die sich in Sergej verliebt.

"Er kam aus der Nähe von Tschernobyl, hatte eine verkrüppelte rechte Hand, die vielleicht gar nichts damit zu tun hatte, und schenkte ihr riesige geblümte Wolltücher, die sie nie trug."

Ich hab sie wie mit einem Atemzug aufgesogen, die Stories der Ulrike Almut Sandig, und mich dabei mitunter gefühlt wie in den Sommern als ich 15, 16 war. Long hot summers voller Sehnsucht und Hoffen - auf die große weite Welt. Paris, die Metro... Die Geschichten von Ulrike Almut Sandig bewahren letztlich alle ihr Geheimnis. Die Autorin löst nicht alles auf. Sie ist keine polternde Schreiberin, sondern eine leise, aber intensive Prosa-Poetin. Mit "Flamingos" spielt sie nun wohl in ihrer ganz eigenen Liga. Mehr von diesem Stoff, bitte, liebe Ulrike Almut!

Passender Soundtrack zu "Flamingos"

  • Lonely Drifter Karen - "Fall Of Spring"
  • Blumfeld - "Old Nobody" & "Verbotene Früchte"
  • John Coltrane - "A Love Supreme"

P.S.: Zur Ehrenrettung des Flamingos: Nein, ich bin im Zoo nie an ihm vorbeigegangen, nie. Ganz im Gegenteil, er ist ein Lieblingsvogel: die Brosche mit dem abgebrochenen Flamingo-Fuß, die Christopher-Cross-Platten mit den Flamingo-Covers, "Pink Flamingos" von John Waters, a little doo-wop der 50s Vocal-Group The Flamingos,...Flamingo, we love you, doch "auf der Oberfläche der seichten Gewässer laufen sie uns davon. Und dann fliegen sie auf."