Erstellt am: 24. 4. 2010 - 14:08 Uhr
Die Geliebten des Kinos
Als ich gestern Nachmittag unterwegs vom lässigen Crossing Europe-Festivalzentrum in mein lässiges Hotel das gar nicht mal so lässige städtische Einkaufszentrum „Passage“ in Linz passieren musste, da stellte sich plötzlich so was von einem Glücksgefühl in mir ein. Auf einem Bühnen-Provisorium, mit einem großen Flachbildschirm im Hintergrund, auf dem ansonsten den ganzen Tag Musikvideos laufen, saßen zwei Dutzend Blasmusikanten und interpretierten Survivor Rocky IVs-Hymne „Eye Of The Tiger“ vor einem Dutzend konsternierter Zuschauer, die ob all dieser Kunst mitten im Kommerz zu nichts mehr in der Lage waren, außer zu stehen und zu schauen. Schön, denke ich mir, wie weit das Kino wandern kann in den Köpfen der Menschen. Aber so etwas, das ist natürlich nur der Gipfel der Massenwirksamkeit eines Mediums: unter der volkskulturellen, jahrmarktähnlichen Oberfläche brodeln die Innovationen, zeigen, dass Kino alles sein kann und sein muss. Eben anspruchsvoll, wild und ungebremst, aber auch lieb, nett und anschmiegsam. Ich persönlich will mich nicht für eins von beiden entscheiden müssen, ich will das totale Kino, mit Raumschiffen und Zeitraumauflösungen, mit Hyperspeed und Standbildern.
Disclaimer: da ich die Genre-Schiene "Nachtsicht" kuratiere, gibt's zu diesen Filmen hier nichts zu lesen.
Die Toten, die Lebenden und die Untoten
Crossing Europe
Das Crossing Europe, und das ist schön, weiß um die Notwendigkeit dieser Ganzheitlichkeit des Kinos, konzentriert sich schon, weil’s eben Programm ist, auf die jungen Autoren innerhalb des Mediums. Aber die zeigen sich stilistisch und inhaltlich nicht nur unverbraucht, sondern eben auch vielgestaltig: Komödien treffen auf Tragödien, der Surrealismus tanzt mit dem Naturalismus, und am End’, da kommen die Zombies. Buntheit rules OK, sie gibt der Kunstform und dem Nachdenken darüber neuen Saft. Da kann man, glaub’ ich, jeden fragen, der hierher nach Linz kommt: alle wissen nach diesen fünf Tagen, dass Kino jung und ohne Regeln sein kann. Aber freilich braucht es auch hier eine Konzentration der Aufmerksamkeit: und die liegt auf dem Europäischen Wettbewerb. Zehn Arbeiten aus vielen Ländern der Alten Welt zusammengetragen, die sich anschicken, so etwas wie eine mögliche Zukunft des Kinos auszudrücken. Mit einigen eingeschlagenen Wegen verträgt man sich gut, mit anderen weniger: aber auch das gehört zum Reifeprozess. Wiewohl man gegen das eine oder andere opponieren mag und hoffentlich lautstark dagegen protestiert, weiß man, dass all das wichtig ist, weil das Kino nur dann frei sein kann, wenn es alles darf.
The Unloved
Crossing Europe
Und schon wieder knirsche ich mit den Zähnen, fahre mit meinen kater-zittrigen Fingern durch die verschmierten Haare, in denen noch das Fett und damit der Exzess der letzten Nacht hängt, und ich denke: soll ich jetzt in einen Film gehen über ein armes, geschundenes Mädchen in einem Jugendheim? Vieles signalisiert mir ein "Nein" und doch sitz' ich dann drin, in diesem steilsten aller Kinosäle, den man nach einem Stolperschritt innerhalb von fünf Sekunden fliegend durchqueren kann. Noch keine Toten hier, immerhin, nur Schläfer, die sich wie Kleinkinder in die gemütlichen Sessel einrollen, die Füße angezogen, die Augen auf die Leinwand gerichtet: was wird’s sein?, der zweite, dritte, vierte Film für heute. Festivalstimmung produziert Festivalmenschen: eine eigenartige, doch liebenswerte Ansammlung.
Crossing Europe
The Unloved also, „Die Ungeliebte“, na bitte. Samantha Morton, britische Schauspielerin, international bekannt, führte zum ersten Mal Regie. Es ist eine persönliche Geschichte: als Kind lebt die mittlerweile mehrfach Oscar-Nominierte bei Pflegeeltern und in Heimen, ist aggressiv, unangepasst, kommt mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt. In diesem Film begegnet sie also auch ihren eigenen Dämonen. Man sieht es: wenn das elfjährige Mädchen Lucy von ihrem Vater (Robert Carlyle) attackiert wird, wenn sie immer wieder versucht, Kontakt zu ihrer distanzierten Mutter aufzunehmen, wenn sie in einer Ecke des Jugendheims sitzt in ihrer Schuluniform, eine Ungeliebte. Morton ist wenig überraschend eine großartige Schauspieler-Regisseurin: aus ihrer Besetzung, die sich auch aus Laien rekrutiert, kitzelt sie unfassbare Leistungen heraus. Am meisten beeindruckt mich Lauren Socha als jugendliche Rebellin, weil man in ihr die Härte und die Zärtlichkeit gleichsam spüren kann, weil sich unter ihrer schreienden Unnahbarkeits-Schminke ein liebevoller Mensch verbirgt. „The Unloved“ ist eine unkonventionelle Interpretation eines zu Tode konventionalisierten Themas, weil die Tristesse eben immer gleichsam auch Wärme ausstrahlt, weil das Vulgäre und das Poetische hier direkt nebeneinander leben.
Crnci
Und dann kommt die Watschen. Schon das Plakat zum Film ist schwarz auf schwarz, nur in der Mitte, da ist der Kopf eines Mannes zu sehen. Ich hab' mir also keine Kurzweil' vorgestellt, keinen Eskapismus, sondern Härte. Aber Crnci ist mehr als das. Die Geschichte von kroatischen Soldaten kurz vor dem Ende des Jugoslawienkriegs, der die Gefühlslagen und die psychische Beschaffenheit der Region immer noch definiert: im schwarzen Wald voller Regen geraten sie in einen serbischen Hinterhalt, Männer sterben, wie viele genau, weiß ich nicht. Blut ist überall. Irgendwann später, in der Wache der „Schwarzen“, wie diese Einheit genannt wird, hört man einen Tonmitschnitt des Gemetzels im Feindradio: Erbauung durch das Leid Anderer.
Dann heißt es plötzlich, die Waffen sind niederzulegen, aber bei den „Crnci“, da regiert noch der Groll. Hier ist noch nichts abgeschlossen. Für diese Männer, für die geht der Krieg weiter. Goran Devic und Zvonimir Juric liefern mit „Crnci“ ihr Regiedebüt ab: ein ambitioniertes Werk, das sich nicht nach Allerweltsdramaturgien richtet, sondern wüst zerschnitten ist. So zerschnitten, dass ich mich oft nicht mehr auskenne. Was aber nichts macht, weil mich das absolut Filmische so herausfordert und anstachelt.
Crossing Europe
Zwei Beispiele für zwei vollkommen unterschiedliche Filme, Stichproben aus nur einem Jahr europäischen Filmschaffens, die die Bandbreite klar und deutlich aufzeigen. Hier ist jeder wer, beim Crossing Europe ist das Kino eine Familie, sind wir alle Pflegekinder, die Wärme suchen und finden. Bald ist es wieder vorbei, dieses vermutlich schönste österreichische Filmfestival. Aber es kehrt zurück: man kann uns doch nicht allein lassen.