Erstellt am: 20. 4. 2010 - 21:55 Uhr
Virtually Dead
Nach "Neuromancer" von William Gibson und "Snowcrash" von Neil Stephenson - beide zählen zu meinen Lieblingsbüchern - hat mich "Virtually Dead" auf ähnliche Weise berührt, allerdings intensiver: Denn die virtuellen Erfahrungen seiner Charaktere siedelt der schottische Autor Peter May nicht in einem fiktiven Metaversum, sondern im real existierenden Second Life an - jener Plattform, die ich 2010 sogar für noch wichtiger halte als in den letzten Jahren, unter anderem wegen ihrer kürzlich eingeführten Shared Web Media Fähigkeiten. "Virtually Dead" ist der sechzehnte Roman von Peter May, davor hat der aus Glasgow stammende Autor mehrere Fernsehserien für die BBC geschrieben. Zur Zeit arbeitet er am Drehbuch für seinen ersten Kinofilm.
Ideen sammelt Peter May vor allem bei langen Reisen. Er war in Osteuropa, Amerika oder Asien, und meistens spielt die Handlung eines neuen Buches dann auch am Ort des vorigen Reiseziels.
Ort der letzten Reise war also Second Life. 2007 bis 2009 war der Hype um die virtuelle 3D-Welt zum Selbermachen schon ein bisschen vorbei und Medien stellten sie eher in die Schmuddelecke. Ein Fernsehbeitrag, der sich kritisch mit Second Life auseinandersetzte, fiel Peter May besonders auf: "Thema der Dokumentation war die Möglichkeit für Kriminelle, Second Life zur Geldwäsche zu benutzen. Das hat mich interessiert."
Peter May
Hauptfigur von "Virtually Dead" ist Michael Kapinsky. Er verdient sein Geld mit dem Fotografieren von Mordopfern und Tatorten. Ansonsten sitzt er depressiv zu Hause – in einer Villa mit Blick auf den Pazifik, die Millionen wert ist. Dennoch ist Kapinsky verschuldet, weil seine Frau nach ihrem Tod ein Finanzchaos hinterließ. Seine Psychotherapeutin rät Kapinsky, an Gruppensitzungen in Second Life teilzunehmen. Dass es dort Therapeuten, Wissenschafter oder Künstler gibt, erstaunt den Protagonisten Kapinsky genauso, wie es auch den Romanautor Peter May überrascht und inspiriert hat: Er hat während seiner Recherche für den Roman ein Detektivbüro in der virtuellen Welt gegründet.
Noch erstaunter war der Autor, dass er als Second-Life-Detektiv wie seine Kollegen in der physischen Welt überwiegend mit Ehedramen und betrogenen Partnern zu tun hatte: "Ich fand mich oft nicht in der Rolle eines Detektivs, sondern in der eines Psychotherapeuten wieder. Ich habe mit Menschen über ihre Beziehungen, über intime Details, über ihre Ängste und Wünsche gesprochen. Ich habe viel gelernt, nicht nur über Second Life, sondern auch über mich selbst und die Menschheit."
Für den Romanhelden Michael Kapinsky bleibt es nicht bei der virtuellen Gruppentherapie. Zufällig bemerkt er, dass in Second Life auf mysteriöse Weise Avatare verschwinden: Ihre Benutzerkonten werden gelöscht und Millionen US-Dollar verschwinden mit ihnen. Kapinsky entdeckt, dass die Avatare und Konten mit der von einem Hacker programmierten virtuellen "Waffe" gelöscht werden. Peter May: "Ein solches Script oder eine solche Waffe existiert meines Wissens nach nicht wirklich in Second Life. Aber ein sehr cleverer Hacker könnte so etwas programmieren. Man müsste ein Script schreiben, das sich in die Serverfarm von Linden Lab hackt und kompletten Zugriff auf das Benutzerkonto des Opfers ermöglicht."
Burstup
Spoiler-Alarm
Die Ereignisse des Romans verdichten sich bald. Ein Unbekannter überweist Michael Kapinsky drei Millionen US-Dollar auf das Second-Life-Konto. Kapinsky wundert sich über den unverhofften Geldsegen - und benützt ihn in seiner Not zur Bezahlung seiner Bankschulden. Währenddessen kommt es in seinem Umfeld zur erneuten Löschung eines Second-Life-Avatars, der prompt ein weiterer realer Mord am entsprechenden User folgt - und diesmal wird Michael Kapinsky beschuldigt. Plötzlich ist sowohl die Polizei hinter ihm her als auch die Mafia, die ihre drei Millionen einfordert.
Spoiler-Entwarnung
"Virtually Dead" ist ein spannender Krimi, der sich nicht davor scheut, kulturelle Phänomene in virtuellen Welten zu erklären, ohne dabei allzu technisch oder allzu trivial zu werden. Um weitere Spoiler zu ersparen, enden hier die Details über das Buch.
Poisoned Pen Press
Interview
Peter May ist im Moment auf Lesetour in den USA - man könnte meinen, er hätte wenig Zeit für virtuelle Welten, aber weit gefehlt. Anlässlich des Romans "Virtually Dead" wollte ich wissen, ob ihm Second Life nur für die Recherche zum Roman gedient hat oder mehr für ihn bedeutet. Das Interview hat ebenfalls in SL stattgefunden:
Welche Erfahrungen haben sie mit Second Life gemacht?
Peter May: Ich schätze, ich habe nicht erwartet, dass es so eine suchterzeugende Erfahrung sein würde. Es ist eine sehr intensive Erfahrung. Weil ein "Tag" in Second Life nur zwei Stunden lang dauert, weil wir keine Zeit verschwenden, um zu schlafen, zu essen oder zu reisen (es gibt Teleportation, Anm.), ist die tatsächlich aktive Erfahrung von Leben in Second Life sehr intensiv, sehr konzentriert.
Sie schreiben im "Virtually Dead" über verschiedenste Typen von Avataren, die man dort ja so trifft. Ein Mann, der in der physischen Welt eigentlich eine Frau ist, Avatare in Form von Geckos oder Drachen. Aber es gibt so viele Subkulturen mehr in Second Life: Die Furries, die Steampunk-Leute, die Kinderavatare, die Gor-Fans, ScienceFiction-Communities, was auch immer. Wie haben sie entschieden, welche Subkulturen, welche Typen von Avataren sie für den Roman wählen würden?
Peter May: Ja, das war schwierig, weil wirklich sehr viele Subkulturen existieren. Sie haben die Vampire vergessen, das ist eine riesige Kultur! Die Vampirkultur in Second Life spiegelt wider, welche Rolle die Vampirkultur in der Kultur der physischen Welt gerade spielt, aufgrund von Büchern, Filmen, Fernsehserien usw. Ich schätze, ich habe für den Roman jene Subkulturen ausgewählt, denen ich mich durch mein virtuelles Detektivbüro und mein eigenes Erleben verbunden gefühlt habe, und die ich für wichtig erachtete, um die Dramatik der Geschichte zu stützen.
Burstup
Welche Aktivitäten sind ihnen heute, nach Fertigstellung des Romans, in Second Life wichtig?
Peter May: Bevor das Buch im Jänner erschien, habe ich zu meiner Freude entdeckt, dass es viele Literaturgruppen in Second Life gibt. Ich wurde von einigen dieser Gruppen kontaktiert, um Präsentationen des Romans "Virtually Dead" zu halten. Ich war erstaunt - sogar die American Library Assocation hat eine große Gruppe, sie nennt sich Librarians of Second Life und hat mich zu mehreren Events in SL als Redner eingeladen. Es gab eine Konferenz mit dem Thema "Bücher und virtuelle Welten", ich habe eine Lesung bei der Eröffnung eines virtuellen Buchladens gehalten, zu der so viele Avatare kamen, dass wir fast einen Servercrash verursachten. Ich habe also, als das Buch veröffentlicht wurde, eine weitere Facette, eine weitere Seite von Second Life entdeckt, die mir bis dahin unbekannt war. Das hat großen Spaß gemacht!