Erstellt am: 19. 4. 2010 - 06:00 Uhr
Satellite of Love
Da ich für Crossing Europe bereits zum dritten Mal die Genre-Schiene Nachtsicht kuratiere, werde ich an dieser Stelle kein Wort über meine Filme verlieren.
Weit weg davon ein Krümelmonster zu sein, ist dieses Festival. Obwohl immer wieder gerne geschrieben wird, dass das Crossing Europe-Filmfestival in Linz die Krumen aufsammelt, die der großen Viennale durch die Finger geschlüpft sind. Aber nix da, denn in der oberösterreichischen Stadt wird die Essenz des Kinos gefeiert. Wer schon mal dort war, der weiß das auch: Festival-Leiterin Christine Dollhofer und ihr Team suchen und finden kleine und große Preziosen des europäischen Filmschaffens, bauen ihren Schätzen ein warmes Wohnzimmer, das einlädt zum Verweilen, zum Erleben, zum Austauschen.
Crossing Europe
Der Clou dabei ist, dass sich das XE dabei gänzlich unorthodox verhält: Hinfort mit dem Repräsentationsstress von vergleichbaren Veranstaltungen, wo man bei bestimmten Vorführungen auflaufen muss, um nicht sein Gesicht zu verlieren. Nein, hier wird alles gleich geliebt, wie in einer großen Familie: das stetig wachsende, dem Festival verbundene Publikum, weiß schon, wieso es immer wieder für ein paar Tage im April in Linz weilt. Und die FilmemacherInnen und Branchengäste wissen auch, wieso sie kommen. Immer und immer wieder. Im siebten Jahr seines Bestehens zeigt sich das Festival auch aufgrund von Budgetkürzungen und dem Platzen der Linz 09-Blase, deren Projekte leider nicht nachhaltig unterstützt werden, etwas schlanker als in den Vorjahren. Der Esprit aber ist derselbe geblieben: aus der Not erwachsen oft die schönsten Programmfrüchte.
Der Wettbewerb
Kernstück des Crossing Europe ist immer der europäische Wettbewerb, in dem stilistisch und inhaltlich außergewöhnliche Erstlings- und Zweit-Arbeiten von zumeist jungen Regisseuren zu sehen sind. Dabei werden einige programmatische Linien verfolgt, die das Festival selbst aufgebaut hat: im letzten Jahr präsentierte Christine Dollhofer eine Sonderschau zum jungen türkischen Kino, heuer laufen gleich zwei Arbeiten von Regie-Hoffnungsträgerinnen des Landes im Wettbewerb: Pelin Esmers 10 To 11 beschreibt die Freundschaft zwischen einem leidenschaftlichen Sammler und dem Hausmeister Ali, der für ihn die Bazars und Flohmärkte Istanbuls nach neuen Fundstücken absucht. Auch Aslı Özges Men on the Bridge handelt vom Zusammenspiel von privaten und öffentlichen Orten. Ihre Schauspieler hat sie auf der Straße gefunden, ihre Erfahrungen und Geschichten in die Rollen einfließen lassen. Entstanden ist ein zeitgenössisches Episodendrama vom Leben in der Türkei.
Crossing Europe
In noch einem entscheidenden Punkt unterscheidet sich „Crossing Europe“ von den meisten anderen Filmfestivals: der Wettbewerb wird von Regisseurinnen dominiert, sechs der zehn heurigen Beiträge kommen von Frauen. Neben Esmer und Özge erzählt die Deutsche Tatjana Turanskyj in Eine flexible Frau von einer alleinerziehenden Mutter, die ihren Job verliert und der globalisierten Marktwirtschaft mit viel Eigeninitiative etwas Erfolg abzutrotzen versucht. Vom Überleben und Lebensglück in schwierigen Verhältnissen handelt auch The Unloved, das Regiedebüt der Schauspielerin Samantha Morton. Behutsam erzählt sie darin vom Alltag des Pflegekindes Lucy.
Panorama
Perspektiven auf den europäischen Alltag, die sich im „Wettbewerb“ etabliert haben, werden in der Schiene Panorama erweitert. Hier haben dann auch bekannte Regisseure Platz, wie der diesjährige Berlinale Gewinner Honey, über den ich bereits hier geschrieben habe. Ebenfalls zu sehen ist der neue, kontrovers diskutierte Film des französischen Regie-Exzentrikers Bruno Dumont: in Hadewijch erzählt er von religiösem Fanatismus. Ein anderes Planspiel entfesselt der Grieche Yorgos Lantimos in Dogtooth: seine surreale Horrorkomödie spielt zur Gänze in einem Luxushaus, in dem die Eltern ihre beiden Kinder zum Schutz vor der Außenwelt verschanzen. Insgesamt fünfzehn kurze und lange Dokumentarfilme offeriert das Panorama in diesem Jahr, darunter auch der großteils aus Fanmaterial gebaute Festivalfilm All Tomorrow’s Parties von „Tarnation“-Regisseur Jonathan Caouette und Erik Gandinis Berlusconi-Dekonstruktion Videocracy.
Crossing Europe
Kick-Off
In den folgenden Tagen wird FM4 das Festival on air und online begleiten.
Die Eröffnung wird an diesem Dienstag wie in jedem Crossing Europe-Jahr mit gleich vier Filmen gefeiert, die jeweils einen Vorgeschmack bieten sollen, auf das was noch kommt: Jasmila Zbanics Drama On the Path erzählt von den Schwierigkeiten einer jungen, weltoffenen Frau aus Sarajevo, deren Lebensgefährte sich plötzlich und ohne Vorankündigung von den Wahabbiten, radikal gläubigen Moslems, vereinnahmen lässt. Das russische Abenteuerdrama How I Ended This Summer läutet das diesjährige Tribute an das Koktebel-Produktionskollektiv ein und ist ein metaphysisch angehauchter, naturmächtiger Überlebensthriller, angesiedelt auf der arktischen Halbinsel Tschukotka. Die Local Artists sind mit der Musikdokumentation Es muss was geben vertreten, die Genre-Reihe Nachtsicht mit dem bildgewaltigen Gangsterfilm Vengeance von Johnnie To.
Festival de Cannes