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Felix Knoke Berlin

Verwirrungen zwischen Langeweile und Nerdstuff

3. 4. 2010 - 16:29

Warum eigentlich Chatroulette?

Eine Piano-Improvisation belebt den Glauben an das Gute im Menschen – aber ich bin mir sicher, dass es sich dabei nur um Selbstbetrug aller Beteiligten handelt.

Ein vermummter Mann, "Merton", bezirzt Chatroulette-Fremde mit maßgeschneiderten Song-Improvisationen, wird ein kleiner YouTube-Star und bekommt von seiner Kopiervorlage Ben Folds eine Live-Impro-Replika geschenkt.

Diese kleine Geschichte musste in den vergangengen Wochen immer wieder für den angeblichen Zauber von Chatroulette herhalten, einem Chatservice, der Webcam-Chatter zufällig miteinander verbindet. Chatroulette wurde – auch von mir, der ich mich fleißig am Hype beteiligte – immer wieder als ein Pars pro Toto des Internet hervorgeholt: Aufmerksamkeitsprinzip, Menschenzoo, Selbstvermarktung bis Selbstausbeutung, sexualisiert und sexualisierend, trivialbanal, irgendwie superdoof und supertoll.

Der Fehler in all diesen Betrachtungen war natürlich, die Dienstleistung als wichtiger als die Menschen, die diesen Dienst zu nutzen versuchen, zu sehen. Chatroulette ändert ja nichts an Menschen, es präsentiert sie nur in einer leicht neuorganisierten Form. Darin begründet, so muss ich für meine Impro-Kurztheorie zu Chatroulette Anlauf nehmen, ist der schnelle Hype um die minimalistische Website.

Denn wildfremden Leuten beim gelangweilt-sein oder bei der traurigen Selbstpromotion zuzuschauen, bedarf keiner Datenleitung, dazu reicht es, in der U-Bahn aufzublicken. Chatroulette konnte mich vielmehr damit verzaubern, dass es zum Leben erwachende Gesichter zeigt – zumindest in den vielen YouTube-Videos, in denen Dutzende Menschen dumme Spiele über sich ergehen lassen müssen und kurz aus ihrer Langeweile (und vielleicht zur Schau getragengen Unberührtheit) erwachen.

Was 'Merton' schafft ist, eine völlig zurecht in tiefste Tiefen gejagte soziale Praxis hervorzuholen: Jemand, der Leuten – etwa auf einer Party, auf dem Marktplatz, in der Fußgängerzone – Improvisationen andichtet, gilt dort höchstens als nervtötender Widerwartskünstler: anbiedernd, aufdringlich, wegen "Kunst" entschuldigt. Sein Chatroulette-Video funktioniert nur, weil er für einen kurzen Moment die jahrelang antrainierten Würgereflexe auszutricksen weiß und den Zuschauer ganz naiv vor seiner Kunstfertigkeit im Staunen erstarren lässt. 'Merton' ist in dieser Rolle eben nur ein Kleinkünstler, dessen Kleinkunst im Netz eine Kleinkunst bleibt.

Das freilich wird einem nicht an 'Merton' gewahr, der ja immerhin den Frühe-Vogel-Selbstverteidigungstalisman um den Hals trägt, sondern an all den widerlichen Nachahmern, die mit Rauchstimmen-Gitarrenklampferei, Autotune-Grimassen und Kostümakkordeon den Merton-Erfolg mitnehmen wollen.

Dass dazu auch Ben Folds gehört, macht die Sache für mich letztlich interessant: Denn was der vor Publikum macht, ist ja meist auch nicht mehr, als zur Schau getragene Kunstfertigkeit, die man ihm aber dank Erfolg als Repräsentation seiner Person abnimmt. In Musik gegossene, vervielfältigbare Person. Oh weh. Viel schöner als die Klatscherei im Folds-Konzert ist für mich deshalb auch immer noch 'Mertons' eigenes Lachen, ergriffen von der Blödheit des Moments.

Ich meine das natürlich nicht als aufgeblasene Kritik am Unterhaltungsgeschäft. Vielmehr hab' ich das Gefühl, dass das rohe, ungeschliffene Chatroulette, dessen durch keine größere Idee verdeckte Kernidee durch seinen Erfolg mir, äh, aufzeigte, wie gut schlechter Wein in jungen Schläuchen schmecken kann. Und dass es bei all dem Internet-Bohei in Wirklichkeit um lauter kleine Individuen geht, die eben so interessant, schillernd, wild und gefährlich sind und all diese "Dienste" auch nur so etwas wie Diskokugeln sind, in denen sich sowieso schon schillernde Menschen in ihrem eigenen Glanz erstrahlen und bei genauerem Hinsehen selbst, halt nur ein wenig bunter, erblicken lassen.

Wenn es allerdings nur darum gehen sollte, dass es viele Menschen gibt, die wie ich schon mit einem nichtigen Lächeln zufrieden zu stellen sind, dann sollte die Menschheit sich einem viel größeren Problem ausgesetzt sehen – oder eben keinem.