Erstellt am: 2. 4. 2010 - 10:30 Uhr
Oh! Sing Sing Subversiv
Oh! - Irritationen im Alltag
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Sie sitzt in der Straßenbahn und singt, sehr leise, aber gut hörbar. Sitzt auf dem ersten Stuhl im zweiten Waggon, diesem Soloding, dem "I'm the king of the world"-Platz für den kleinen Mann. Und singt "Streetlife". Because there's no place I can go. Streetlife, it's the only life I know.
Ich muss an ein oranges Spritzgetränk und eine eindeutige Handbewegung denken und freu mich. Es wird wieder warm. Schön.
Nun bin ich aber ein Mensch, der versucht, das Atmen einzustellen, wenn die Straßenbahn eine Station erreicht, für einen kurzen Moment alles verstummt und man sogar das Umblättern der Gratiszeitung hört. Als Kassandra der Kleinmütigen sehe ich die Katastrophe also schon vor mir. Soviel Fröhlichkeit, das verträgt die Umwelt schlecht. Et voilá: Beim nächsten "Oh oh oh Streetlife" zuckt der Erste aus.
elisabeth gollackner, fm4
Mit seiner faltigen Faust hämmert der Mann gegen die Scheibe (zumindest auf das Spiegelbild dreschen, wenn man schon in echt nicht darf) und brüllt: "Ruhe! Wir sind hier in der Straßenbahn, nicht beim Gesangsverein! Ich will das nicht hören!"
Da dreht sich das Mädchen in seine Richtung und schreit mit einem Organ, das eine große Karriere verspricht:
"Dann hören'S halt nicht hin! Ich will euer deppertes Reden und Telefonieren auch nicht hören, und das ist dreimal lauter!"
Und sie singt weiter.
Was jetzt kommt, ist zu spannend, um nicht hinzuschauen. Der Mann versucht, sie mit Scheibenklopfen zum Schweigen zu bringen, und weil das nicht gelingt, baut er sich vor ihr auf und schreit auf sie ein: Ob sie wahnsinnig sei, was sie sich einbilde, dass sie in die Psychatrie gehöre.
"Ich bin jung und ambitioniert", schreit das Mädchen zurück. "Ich muss das hier üben! Schleichen Sie sich!"
Und sie singt weiter.
Schön langsam bekomme ich es - fünf Reihen weiter hinten - mit der Angst zu tun, er könnte ihr eine flascheln. Sie scheint meine Befürchtungen nicht zu teilen, denn sie beginnt, ein bisschen lauter zu singen. Streetlife.
Der Alte steht neben ihr, die eine Hand in den Haltegriff gekrallt, die andere zeigt zornig den Vogel, und seine weißen Haare zittern vor Wut. Er kommt ihr nicht an.
"Wonn des jeder darat!" schreit er. Und plötzlich beginnt er selbst, lauthals zu singen, irgendwas zwischen "Alle Meine Entchen" und "Olé", das auf diese Weise so bestimmt noch nie performt wurde. Sehr beeindruckend, sehr verzweifelt.
Sie singt ebenfalls weiter.
Bei der nächsten Haltestelle steigt er aus, völlig fertig. Wir fahren weiter, "Streetlife, because there's no place I can go". Und schon stellt sich Kandidat Nummer zwei neben sie.
Weil schon beobachtet werden konnte, wie der erste Herausforderer bezwungen wurde, versucht es dieser Mann mit der Methode sachlicher Überzeugungskraft:
Er erklärt der "jungen Dame", dass sie keinen einzigen richtigen Ton treffe, dass sie nicht singen könne, dass das keine Harmonien seien und dass sie am besten jetzt gleich aufhören solle, weil sie niemals, niemals, niemals Sängerin werden würde.
"Wenn das keine Hamonien sind, dann hat Randy Crawford einen Fehler gemacht", sagt sie nur und singt weiter.
Auch dieser Mann schreit noch ein bisschen, steigt dann bei der nächsten Haltestelle aus und brüllt durch das Zschhh der sich gerade schließenden Türen: "Sehen Sie, alle Leute steigen aus, weil das niemand aushält! Hören'S endlich auf!"
Sie singt weiter.
Und spätestens, als sich die zwei Betrunkenen in ihren bunten ballonseidenen Jogginghosen neben das Mädchen stellen und auf sie einlallen, bin ich restlos überzeugt: Das ist das mutigste Mädchen der Welt. Ich habe schon lange nicht mehr jemanden so souverän siegen sehen.